Auf meine nächste Reise nach Berlin freue ich mich sehr. Ich treffe alte Freunde, kann die Hauptstadt und das türkische Flair in Berliner Moscheen zur Ramadanzeit noch sehen und genießen und vor allem komme ich endlich mal wieder raus aus dem Haus und Büro. Reisen macht immer Spaß, obwohl es auch immer mit Stress verbunden ist.
Dennoch beschlich mich wieder ein Gefühl von Scham und Unsicherheit, nachdem ich gestern meinem Vater selbstbewusst auf die Frage, ob ich auf meiner Reise fasten werde, sagte: „Nein, ich bin Seferi.“ Seferi bedeutet so viel wie, auf Reisen sein. Eine solche Person kann islamrechtlich vom Fasten ausgenommen sein, wenn bestimmte Kriterien und Voraussetzungen erfüllt sind.
Overthinking Fasten auf Reisen
Das Selbstbewusstsein wich in der Nacht und auch während des Schlafes einer Unsicherheit zum Thema. Mache ich wirklich das Richtige? Mache ich es mir vielleicht zu leicht? Bin ich wieder dabei, eine Ausrede zu finden, um meinen Glauben nur auf die leichte Schulter zu nehmen? Ich habe viele Menschen am Rand der Linie zwischen richtig und falsch den Glauben komplett verlieren sehen.
Ich stand selbst mehrfach auf dieser Linie, als mein Glaube geprüft wurde. Mein Vater und seine Frage brachten das „Overthinking“ vermutlich in Gang bei mir. Er ist vom alten Schlag. Er sieht immer wieder, wie es sich Menschen sehr einfach machen, mit bestimmten Dingen und hat halt auch Angst, dass seine Kinder und seine Nachfahren, ihren Glauben verlieren und nachlassen in ihrem „Muslim-Sein“.
Mein Leben ist konservativ, meine Gedanken liberal
Ich war schon immer in diesem Bereich sein Sorgenkind. Der junge Şahin, mit viel Wissen gesegnet, der sich aber aus den Traditionen mehr losgerissen hat, als jeder andere. Der mehr über den Islam weiß, konservativ in seinem Glauben ist, aber nur sehr wenig davon auch im Alltag lebt. Ich beschrieb und beschreibe das mit dem vermeintlichen Paradox: „Mein Leben ist konservativ, meine Gedanken liberal.“
Ich tue, was die Praxis von mir abverlangt. Meist sogar viel zu wenig, aber ich weiß, wo ich sündige, wo ich Defizite habe und wo ich meine roten Linien ziehe. Ich führe ein ehrbares, einfaches Leben als Muslim. Weder in der einen noch der anderen Extreme. Ich bin ein einsamer Mensch, der aufgrund seiner Prinzipien nicht einmal in die Nähe dessen kommt, was unsere Konsumgesellschaft tagtäglich für normal erachtet.
Banalität der unterschwelligen Einstellung
Aber ich denke über die Worte, die mir gesagt werden, tausendfach nach. Mein Vater meint es nicht böse. Er hat nicht einmal wirklich einen Vorwurf gemacht, aber ich habe diesen Vorwurf aus seinen Worten am späten Abend dann gelesen. Mein Wecker klingelt. Es ist die Zeit zum Sahur.
Warum habe ich meinen Wecker eigentlich gestellt? Ich meine, ich war mir doch so sicher, dass ich auf Reisen gehe und deshalb nicht fasten werde. Das war doch das, was ich vorhatte? Oder doch nicht? Ich stelle mich also wieder hin. Noch 45 Minuten, in denen ich etwas essen und trinken könnte. Danach könnte ich den Entschluss fassen, zu fasten.
Ich will aber gar nicht fasten. Reisen macht mich müde, es ist stressig und gut für meinen Zuckerlevel ist es auch nicht. Hinzu kommt, dass meine Geduld häufig noch einmal zusätzlich geprüft wird auf Reisen. Nicht immer kann man cool reagieren und schon gar nicht, wie es sich für einen demütigen Muslim gehört.
Arroganz im Glauben
Während ich den Salat zubereite und mir eine Cola Zero eingieße und meine Flasche Wasser befülle, beschleicht mich weiterhin der Gedanke, was ich jetzt tun soll. Und da ist sie. Diese eine Ermahnung, die mich zurück in die reale Welt der Entscheidungen zurückholt.
Mein Imam sagte mir einmal, als ich als junger Mensch auf einer 8-Stunden-Fahrt trotzdem nicht auf das Fasten verzichten wollte: „Du bist arrogant im Glauben und das ist keine gute Eigenschaft, sondern eine Eigenschaft des Teufels. Allah (swt), hat dir in seiner großen Gnade und Weisheit ein Geschenk gemacht und dir erlaubt, auf dein Fasten zu verzichten. Du aber wirfst dieses Geschenk weg und sagst: Ich bin besser.“
Ich fühlte mich damals schlecht. Doch so einfach ließ mich mein Imam nicht von der Klippe springen. Er erwähnte einen Hadith. Er gab mir aber einen anderen Halt, nachdem er mein Ego erst einmal zerstört hatte:
Ibn ‘Abbas (Allahs Wohlgefallen auf ihm) berichtete, dass der Gesandte Allahs (ﷺ) während des Monats Ramadan im Zustand des Fastens reiste, bis er ‘Usfan erreichte. Dann bestellte er einen Becher mit Trinkwasser und trank ihn offen, so dass die Leute es sehen konnten, und brach das Fasten (und nahm es nicht wieder auf), bis er Mekka erreichte. Ibn ‘Abbas (Allah sei mit ihm zufrieden) sagte:
Der Gesandte Allahs (ﷺ) fastete und brach das Fasten, so dass derjenige, der es wünschte, fastete, und derjenige, der es zu brechen wünschte, es brach. (Sahih Muslim, Buch 13, Hadith 114)
Vor- und Nachteile und nach gutem Gewissen entscheiden
Der Koran listet in Sura 2:185 die Reisenden mit auf, die vom Fasten befreit sind. Der obige Hadith von Ibn Abbas (ra), dem Lehrer unter den Prophetengefährten (ra), stärkt als Erläuterung die Auffassung, dass es den Reisenden selbst überlassen ist, ob sie ihr Fasten ausfallen lassen, bei einer anstrengenden Reise brechen oder fortführen. Am Ende ist es Muslimen auf Reisen freigestellt, ob sie fasten oder nicht. Und auf diesen Punkt wies mein Imam mich am Ende hin, nachdem er mir einen Einlauf verpasst hat.
Mir wurde bewusst, dass ich die Vor- und Nachteile abwägen und auch meinen aktuellen Gesundheitszustand berücksichtigen muss. Ich bin keine 20 mehr, ich muss auf meine psychische Situation und meinen Zuckerhaushalt achten. Reisen ist für mich stressig, der Haushalt und die Arbeit warten ebenfalls noch auf mich. Es ist besser, dass ich es nicht einmal versuche und den heutigen Tag auf jeden Fall aussetze. Was vor Ort ist, entscheide ich dann vermutlich aufs Neue.
Und in Erinnerung kommt aus dem Quran (2:185), dieser Teil des Verses, zum Fasten auf Reisen:
“… Allah will für euch Erleichterung; Er will für euch keine Erschwernis, …”
Der Morgen ist angebrochen. Und Allah (swt) weiß am besten, was in den Herzen ist.