“Also Akif abi”, fing gestern Abend mein Bruder im Glauben an: “Hast du eigentlich Angst vor dem Tod?” Ich musste schmunzeln. Noch vor 1,5 Jahren hätte ich mich am liebsten von einer Brücke geworfen. So bekümmert war ich über meine damalige Situation. Die harte Zeit hat auch etwas mit mir gemacht, was ich einfach nicht beschreiben kann. Es war gut, dass ich Halt gefunden habe, aber ich habe an allem gezweifelt, was ich glaubte zu wissen oder sogar wirklich gewusst habe.
Selbstmord bleibt im Islam eine Großsünde und sie gehört zu den sog. großen Sünden. Anders als die anderen Sünden aus dieser Kategorie kann Selbstmord nicht mehr bereut werden. Daneben können nach Mehrheitsmeinungen muslimischer Gelehrter, selbst große Sünden nach einer echten Reue durch Allah (swt) vergeben werden.
Zu den großen Sünden werden gezählt:
- Schirk (Allah (swt) etwas beigesellen)
- Mord
- Unterlassung des Gebets
- Unterlassung der Entrichtung der Zakat
- Unterlassung des Fastens im Ramadan
- Das Quälen der Eltern
- Zinsen (Wucher)
- den Besitz einer Waise für sich selbst zu verwenden und auszugeben
- Ehebruch bzw. Unzucht (Zinā)
- Jemanden des Ehebruchs bzw. der Unzucht bezichtigen (Vorwurf des Zinā)
- Alkoholkonsum
- Diebstahl
Allahs (swt) Barmherzigkeit
In der Erläuterung zum Thema Reue und Vergebung durch Allah (swt) wird häufig auf diesen Vers im Koran verwiesen, der auf die Barmherzigkeit Allahs (swt) verweist: “Allah vergibt gewiss nicht, dass man IHM (etwas) beigesellt. Doch was außer diesem ist, vergibt ER, wem ER will. Wer Allah (etwas) beigesellt, der hat fürwahr eine gewaltige Sünde ersonnen.” (4:48)
Reue ist ein Aspekt von Erkenntnis, der Bitte um Vergebung, des Bemühens um Wiedergutmachung und der Abstinenz. Vielfach denken die Menschen aber, dass es reicht, sich zu entschuldigen, wenn die Tat eine andere Person betrifft. Und wenn die Entschuldigung angenommen ist, ist man aus dem Schneider. Wer immer wieder die gleichen Fehler begeht und sein Handeln nicht ändert, hat nicht bereut.
Leben genießen?
Als mich gestern nun, dieser jüngere Bruder fragte, habe ich geschmunzelt, weil es mich an eine Debatte mit Freunden in den vergangenen Tagen erinnert hat. Aus ihrer Sicht bin ich viel zu verkrampft, was meine Vorstellungen von meiner Zukunft angeht. Vor allem sollte ich mich aus ihrer Sicht mal gehen lassen, Spaß haben und “das Leben in vollen Zügen genießen.”
Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich habe ein ausgeglichenes und schönes Leben gerade. Ich unternehme viel, ich probiere neue Dinge aus oder hole Dinge nach, die ich gerne immer mal gemacht hätte. Dabei habe ich aber meine Grenzen, die meine persönliche Präferenz sind. Ich überschreite diese Grenzen nicht und ich möchte diese Grenzen auch nicht überschreiten. Ich habe einfach eine gute Zeit.
Das wirkt auf meine Freunde eher spießig bis zu der Annahme, ich würde später vereinsamt enden. Das ist sogar möglich und es wäre trotzdem nicht die größte Tragödie in meinem Leben. Ich komme gut mit der Einsamkeit zurecht, auch wenn viele Dinge mit einer Partnerin schöner wären. Man muss aber nichts mehr erzwingen, wenn man ein Leben geführt hat, wie ich es geführt habe. Man wartet einfach und lässt die Dinge laufen.
Keine Angst vor dem Tod
Deshalb habe ich meinem jüngeren Glaubensbruder erklärt, dass ich grundsätzlich keine Angst vor dem Tod habe. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut und habe meine Fehler. Sie gehen nur mich etwas an und ich versuche jeden Tag mehr und mehr von meinen Fehlern wegzukommen, während ich gleichzeitig darum kämpfe, anderen keine Macht über mein Leben zu geben.
Weil das Thema aber vielfältiger und tiefgehender ist, machte ich den jüngeren Bruder darauf aufmerksam, dass der Tod laut Imam Ghazali (rh) verschiedene Kategorien kennt und wie die Menschen diesen erleiden werden. Ich habe ihm die Kurzversion erläutert, für euch eine längere Version aus dem bekannten Werk ihya ul ulum ad din; Band 1 — 434.
Die Menschen können vor dem Tod in vier Kategorien unterteilt werden:
1. Diejenigen, die nicht begriffen haben, dass das irdische Leben vergänglich und vorübergehend ist; und aus irdischen Freuden ihr Leben bestehen lassen. Für diese Menschen ist der Tod das Ende aller Freuden, und das Erleben des gefürchteten Ausgangs. Der Vers „Sag: Gewiss, der Tod, vor dem ihr flieht –, gewiss, er wird euch begegnen. Hierauf werdet ihr zu dem Kenner des Verborgenen und des Offenbaren zurückgebracht, und dann wird ER euch kundtun, was ihr zu tun pflegtet.“ [62:8] erklärt den Zustand dieser Menschen wohl am besten.
2. Diejenigen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, dem Falschen abschwören und versuchen den rechten Weg zu gehen. Auch für diese Menschen ist der Tod eine ungewollte und unangenehme Erfahrung. Denn sie sind bisher nicht bereit. Es herrscht für sie immer die Gefahr, dass der Tod sie plötzlich ereilt. Diese Menschen wollen zu Allah, aber wünschen sich den Tod so spät wie nur möglich.
3. Diejenigen, die um Allah wissen, und ihm zugetan sind in Liebe. Diese würden alles tun, um Allah zu erreichen, und beschweren sich darüber, dass der Tod sie nicht ereilt.
4. Diejenigen, die diese Angelegenheit Allah überlassen. Für diese Menschen ist nur das gut, und nur das zu wünschen und zu lieben, was Allah für einen vorgesehen hat.
Möge Allah (swt) uns alle zu den Menschen der vierten Kategorie gehören lassen.
Warum ich mich vor dem Tod fürchte
Dann habe ich meinen Bruder im Glauben darauf hingewiesen, dass es für mich keine Angst vor dem Tod gibt, auch wenn er womöglich schwer und hart für mich sein wird. Mich betrübt vielmehr, dass geliebte Menschen vor mir sterben und ich diese Trauer erleben muss. Ich fürchte mich davor, dass geliebte Menschen sterben und ich unter der Last der Trauer zusammenbreche. Mich fürchtet also nicht mein eigener Tod, sondern der Tod geliebter Menschen.
Ich gab ihm schließlich den Rat, weil er sich anscheinend wieder nur mit dem Tod beschäftigt, weniger darüber nachzudenken, wie es wohl auf der “anderen Seite” sein wird und wie “schlimm” der Tod für einen selbst wird, als vielmehr die Frage zu stellen, wie er den Schlüssel zum Paradies gewinnen kann, indem er sich im Hier und Jetzt darum bemüht.
Was sind die Schlüssel zum Paradies?
- Reue, und zwar echte Reue wie oben beschrieben zeigen, wenn man Sünden begangen hat.
- Ein guter Muslim sein. Das bedeutet nicht nur, seine Pflichten in den religiösen Diensten (Gebet, Zakat, Fasten, Hadsch) zu erfüllen, sondern auch vom Charakter her ein Vorbild zu sein und sich von den großen Sünden fernzuhalten. Gleichzeitig viele gute Taten zu verrichten, denn die guten Taten löschen die schlechten Taten aus.
- Richte dich nach dem, was im bekannten Hadith Gabriel über das gute Tun (ihsan) berichtet wird: “Es besteht daraus, dass du Allah dienst, als ob du IHN sehen würdest. Denn wenn du IHN auch nicht siehst, so sieht er dich.” (Sahih al-Bukhari 50, Buch 2, Hadith 43)
- Sich um die eigenen Eltern zu kümmern, sich um sie nicht nur zu sorgen, sondern für sie da zu sein, wann immer sie einen benötigen. Sie haben ein Anrecht auf ihre Kinder und ihre Unterstützung. Dies sollte man niemals verweigern.
- Selbst aufrichtige und Kinder von gutem Charakter zu erziehen. Unsere Kinder sind unser Vermächtnis an dieser Welt. Dabei sollen sie keine Abbilder von uns selbst sein, sondern ehrbare und wertvolle Teile der Gesellschaft sein, in der sie leben. Je besser wir unsere Kinder erziehen, desto mehr hinterlassen wir eine angenehme und lebbare Welt für alle anderen.
- Eine Hinterlassenschaft in dieser Welt einrichten, von der alle Menschen profitieren können. Der junge Mann gestern Abend denkt beispielsweise über einen Hauskauf nach. Das Geld könnte er rein theoretisch aber auch so anlegen, dass er in zehn Jahren eine private Stiftung ins Leben rufen könnte, die auch nach seinem Tod gemeinnützige Zwecke erfüllt. Dieses Stichwort ist wichtig: Richtet gemeinnützige Projekte ein, die der Allgemeinheit dienen. Das kann auch der 10.000ste Brunnen in Afrika sein oder die Sicherung einer Hilfseinrichtung für Obdachlose in Hamburg.
Im Grunde müssen wir also nur glauben und Gutes tun. Im Grunde ist es aber ebenso kompliziert und schwierig. Doch Allah (swt) verspricht im Koran: “Diejenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun: Sie erwartet Glückseligkeit und die schönste Heimkehr.” [13:29] und “Wer rechtschaffen handelt, sei es Mann oder Frau, und dabei gläubig ist, den werden WIR ganz gewiss ein gutes Leben leben lassen. Und WIR werden ihnen ganz gewiss mit ihrem Lohn das Beste von dem vergelten, was sie taten.” [16:97]
In diesem Sinne: Seien wir einfach gute Menschen, die rechtschaffene Dinge tun und sich für eine bessere Welt einsetzen.
Hast du Angst vorm Sterben?