Die Terrororganisation DAESH hat vor einigen Jahren noch ein Kalifat ausgerufen und versucht in Selbstverwaltung ein Staatswesen zu errichten. Es scheiterte kläglich und verbindet im Westen seitdem die Idee von einem Kalifat mit einem Terrorregime.
Tatsächlich hätten sonst noch die Taliban in jüngster Zeit ein Kalifat ausrufen können, nachdem sie die Macht in Afghanistan gewaltsam übernommen haben. Sie verzichteten aber bewusst darauf und riefen “nur” ein Emirat aus. Vermutlich auch, weil der IS gescheitert ist.
Kalifat ist nur eines von vielen, möglichen, Lösungen für ein islamisches Staatswesen
Islamisch betrachtet ist das Kalifat eine von vielen möglichen Lösungen für ein Staatswesen, dass den Islam zum Zentrum nimmt. Im Grunde befürwortet jede bekanntere islamische Strömung eine Theokratie, genauer gesagt theokratische Grundelemente in der Verfassung eines Staatswesens. Dies erklärt auch, warum bis heute so viele Überbleibsel und verschiedene Lösungen für verschiedene Länder und Staaten existieren.
Nimmt man die islamische Geschichte, so hat es tatsächlich nur bis zum Tode Alis (ra) ein echtes Kalifat gegeben. Es ist ein historisches Konstrukt, dass für die damalige Zeit nach dem Tod des Propheten (saw), wichtig war und die muslimische Gemeinschaft vor einem Zerfall, der Ausrottung und letztlich auch einem Bürgerkrieg beschützt hat.
Das historische Kalifat
Historisch gesehen war das Kalifat eine politische Institution, die nach dem Tod des Propheten (saw) entstand, um die Führung der muslimischen Gemeinschaft zu organisieren. Die vier rechtgeleiteten Kalifen waren die politischen und religiösen Führer der Muslime und wurden als Stellvertreter des Propheten (saw) angesehen. In den ersten Jahrhunderten des Islam spielte das historische Kalifat noch eine zentrale Rolle bei der Ausbreitung des Islam und der Verwaltung des muslimischen Reiches.
Die Ära der vier rechtgeleiteten Kalifen (ra) dauerte allerdings nur 29 Jahre (632–661). Was danach folgte, wird heute zwar häufig von islamistischen Strömungen und Sekten als “das Kalifat” beschrieben, war jedoch streng betrachtet der Wechsel des Machtapparats in Dynastien (wie den Umayyaden, Abbasiden, Osmanen oder auch Fatimiden). Und diese hatten, sieht man vielleicht von der Ära Umar ibn Abdalaziz (ra) ab, nur noch wenig mit einem echten Kalifat nach dem Vorbild der rechtgeleiteten Kalifen zu tun.
Moderne Vorstellungen über das Kalifat sind ideologisch und politisch gefärbt
Korruption, Machtkämpfe und Missbrauch haben diese Kalifate geprägt. Deshalb ist es auch nicht in Ordnung, wenn Muslimen heute versprochen wird, ein Kalifat sei die Lösung für die komplexen Probleme unserer Zeit. Tatsächlich ist ein solcher Blick eher populistisch und von einer Nostalgie geprägt, die illegitim ist.
Am einfachsten lässt sich das Problem hiermit beschreiben: Die heutigen Diskussionen über das Kalifat sind stark von politischen, sozialen und ideologischen Strömungen geprägt und spiegeln oft unterschiedliche Interpretationen des Islam wider. Dabei wird deutlich, dass die Befürworter keine Lösungen liefern können, um ein funktionierendes und komplexes Staatswesen zu installieren.
Die Diskussionen bleiben auf der Oberfläche. Auch die Argumentationen, warum das Kalifat die Lösung sein soll, gehen an den tatsächlichen Problemen der Muslime vorbei. Vielfach wird beispielsweise behauptet, dass Kalifat sei mit der Staatsgründung der Türkei abgeschafft worden. Historisch betrachtet war der Sultan aber nie ein Kalif im klassischen und historischen Sinne gewesen.
Ansätze können interessant sein
Unabhängig von Sekten gibt es nennenswerte Auseinandersetzungen mit dem Thema. Dabei wird deutlich, dass einige Muslime das Kalifat als ideale Form einer Regierung gemäß den Prinzipien des Islam betrachten. Sie argumentieren, dass ein Kalifat die Einheit der Muslime fördern, Gerechtigkeit sicherstellen und die Interessen der Gemeinschaft vertreten würde. Für sie wäre ein Kalifat die Lösung für die Probleme, mit denen Muslime weltweit konfrontiert sind, sei es Armut, Unterdrückung, Besatzung oder Islamophobie.
Dennoch gibt es heutzutage mehr Muslime, die das Konzept des Kalifats skeptisch betrachten und ablehnen. Sie weisen darauf hin, dass ein modernes Kalifat ähnliche Probleme mit sich bringen dürfte, wie es auch das historische Kalifat und die nachfolgenden Dynastien gebracht haben. Ferner wird argumentiert, dass die Vorstellung eines weltweiten islamischen Staates unrealistisch ist in einer Zeit, in der die muslimische Welt politisch zersplittert ist und verschiedene politische, ethnische und religiöse Identitäten um Macht konkurrieren.
USA als Kalifat
Es ist aus meiner Sicht auch hirnrissig anzunehmen, ein Kalifat allein könne die Lösung für alle unsere Probleme sein. Tatsächlich ist aber auch die Idee vom Funktionsumfang eines Kalifats und des Staatswesens nie geklärt worden. In einer Debatte mit einem Bekannten vor etwa 18 Jahren neigte dieser dazu, mir zu erklären, warum das US-System aktuell vermutlich das beste System für ein Kalifat wäre.
Der US-Präsident wäre in diesem System der Kalif. Der Senat wäre die SCHURA. Der Präsident hätte ein VETO-Recht gegenüber dem Senat, würde aber um diesen und Beratungen nicht hinwegkommen. Gleichzeitig wären mit Unterhaus, Repräsentantenhaus und dem Kongress letztlich politische Abbilder der Wünsche der Bevölkerung möglich.
Das Recht würde über das oberste Gericht letztlich auch vom Kalifen gesetzt werden (Muftis wären die Richter). So weit entfernt ist also die Idee eines Kalifats gar nicht von den bestehenden demokratischen Strukturen, die wir kennen. Tatsächlich geht es um Feinheiten, Details und Ausprägungen für ein Staatswesen, das funktioniert.
Idee eines Kalifats lähmt Bemühungen
Interessant ist, dass heutzutage sämtliche Befürworter eines Kalifats, kein solches Modell für ein Staatswesen präsentieren können. Es wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass die eigenen Positionen dieser Gruppen und Sekten häufig auf eine eigene Machtdemonstration und den eigenen Machtapparat abspielen. Dies ist vermutlich auch der Grund, warum Muslime von solchen Gruppen angegriffen werden, wenn diese widersprechen.
Gleichzeitig lähmt die Idee eines Wiederaufbaus eines Kalifats die tatsächlichen Möglichkeiten nach Partizipation in einer Gesellschaft zum Guten. Statt sich auf die Wiederherstellung eines historischen politischen Systems zu konzentrieren, könnten Muslime nach zeitgemäßen Lösungen suchen, die auf den universellen Prinzipien des Islam wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gleichheit basieren. Sie tun das auch häufig.
Eine bessere Zukunft für alle
Kalifatsjünger versuchen dieses Engagement zu kriminalisieren und werfen denjenigen, die sich an demokratischen Prozessen beteiligen “Verrat am Islam” vor. Am Ende müssen sich jedoch Muslime für demokratische Institutionen einsetzen, die Rechtsstaatlichkeit fördern und für soziale Gerechtigkeit starkmachen.
Es muss auch bedeuten, dass sich Muslime in den Gesellschaften für die Rechte von Minderheiten einsetzen, die Bildung fördern und die Armut bekämpfen. Indem Muslime sich auf diese Werte und Ziele konzentrieren, können sie meiner Meinung nach effektiver dazu beitragen, die Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert sind, und eine bessere Zukunft für sich selbst und für die Gesellschaften, in denen sie leben, zu schaffen.