Dogmatismus

Was wählst du, wenn du mit den dogmatischen Vorstellungen deiner Glaubensgeschwister und der Realität geprüft wirst? Eine Anekdote aus gegebenem Anlass.

Als ich damals an der Ampel stand, war da diese blinde, junge Frau. Ich war in unmittelbarer Nähe der Moschee und wusste nicht, was ich machen soll. Sie war orientierungslos und hatte anscheinend den Weg komplett verloren. Ich überlegte, ob ich sie ansprechen oder ob ich, wie der Rest der Menschen um uns herum, einfach teilnahmslos an ihr vorbeigehen soll.

Ich sprach sie an, fragte, ob sie Hilfe benötigt. Sie war weiterhin desorientiert. Ich fasste meinen Mut zusammen, nahm ihre Hand, legte ihren Arm in meinen und versicherte ihr, dass ich ihr nur helfen möchte. Sie wurde ruhiger, atmete gelassener und fragte mich schließlich, wo wir genau sind. Sie suchte die Ampel, die nur zwei Meter links von ihr stand.

Während unseres Gesprächs schaute ich mich beschämt um. Ich fragte mich, was die Muslim:innen aus der Moschee und der gesamten Community denken würden, wenn sie mich hier mit einer Frau im Arm sehen würden. Ich verdrängte den Gedanken und half der Frau weiter.

Nachdem ich sicher sein konnte, dass sie wieder ihre Anhaltspunkte gefunden hatte und sie sich von selbst bedankte und loslassen wollte, war ich wieder beruhigt. Ich ging dann in die Moschee, nahm noch einmal Wudu (obwohl ich wusste, dass es unnötig war) und schloss mich dann dem Unterricht und dem Gebet mit dem Imam an.

Später fragte ich meinen Imam, weil mein Herz sich einfach nicht beruhigen wollte, was ich hätte in dieser Situation anders machen können. Er erzählte mir eine Geschichte, um mir Trost zu spenden. Die Geschichte ist nur schwer zu erzählen und schwer zu verstehen. Im Grunde aber machte er mir klar, dass ich hier eine Wahl zwischen „Dogmatismus“ und „Menschlichkeit“ getroffen habe, die viele Menschen in meinem Umfeld nicht verstehen würden. Er riet mir, meine Gutmütigkeit zu bewahren. Ich hätte richtig reagiert, weil eine Person in Not war.

Was er meinte, wurde mir bewusst, als im Jahr 2002 in Mekka laut Berichten arabischer Medien 15 Mädchen im Feuer starben, weil die Religionspolizei ihre Flucht aus dem Feuer verhinderte, da diese nicht „ordentlich gekleidet“ gewesen sein sollen. Mein Islamverständnis unterschied sich von denen dieser Subjekte. Und ich war froh, dass ich ein Umfeld hatte, dass dieses Verständnis ermöglicht hatte.

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