An der Wand meiner neuen Wohnung habe ich 51 Bilder aus dem Jahr 2023 mit Isolierband angebracht. Ein Bild habe ich aus all der Masse herausgenommen und in einen Bilderrahmen gesteckt. Es zeugt von einem besonderen Abend in Frankfurt am Main, mit einem besonderen Menschen. Der Bilderrahmen steht am Fenster, wo ich meinen Schreibtisch aufgestellt habe. Es wärmt mein Herz.
52 Bilder. Das gesamte Jahr 2023 hat in eine solche Summe von ausgedruckten Bildern hineingepasst. Wie bescheiden doch ein Leben sein kann. Minimalistisch und doch so voller Leben und schöner Momente.
Andere würden sich glücklich schätzen, wenn sie nur einen Bruchteil dessen erlebt und gespürt hätten, was ich in diesem Jahr erleben und spüren durfte. Wieder andere würden daran zerbrechen und zugrunde gehen.
alhamdulillah ala kulli hal
Für jeden Moment muss man dankbar sein. Ich bin es. Für die schönen wie auch schmerzlichen Momente. Für die lustigen wie auch traurigen Momente. Für die liebevollen und lieblosen Momente. Für die Momente, in denen das Leben unberechenbar war, und für die Momente, in denen das Leben langweilig vorausschaubar war. Für jeden Moment und für jede Situation bin ich dankbar. Sie haben mich allesamt als Lektion und zugleich als Motivation begleitet.
Am Ende des Jahres blickt man zurück. Man ist nostalgisch und versucht die Dinge einzuordnen. Man versucht sich manche Dinge schönzureden, manche Dinge versucht man sich zu erklären und wieder manche Dinge kann man gar nicht erfassen. Und man trauert. Man trauert ob der vertanen Chancen auf ein glücklicheres Leben. Man trauert den Menschen hinterher, die wir auch in diesem Jahr verloren haben — lebendig oder im Tod.
Funktionieren
Wann hast du das letzte Mal geweint? So wirklich, mit Tränen in deinem Gesicht? Ich erinnere mich einwandfrei daran. Das war, als mein Großvater im Sterben lag und wir nicht mitfliegen durften. Wir waren in Almanya gefangen und hörten erst Tage nach seinem Tod von seinem Ableben. Er wurde in die kalte Erde gelegt und die Trauer, diesen großartigen Menschen nicht mehr in meine Arme schließen zu können, übermannte mich. Ich war noch ein Kleinkind, als es geschah.
Was mir Trost gab, war die Tatsache, dass wir als Muslim:innen daran glauben, dass gute Menschen in den Himmel kommen und schlechte Menschen in die Hölle. Ich war mir sicher, dass mein Großvater ein guter Mensch war. Ich hatte ihn doch selbst erlebt, in diesen paar Monaten, wo meine Eltern zum Hadsch gepilgert waren und mich bei ihm gelassen hatten. Dieser Koloss von einem starken Mann hatte mir seine sanfte, großväterliche Seite gezeigt, während seine Kinder nicht einmal von ihm in den Arm genommen wurden.
Der Tod meiner Tante in diesem Jahr erinnerte mich an diese Trauer. Ich war traurig, weil ihr Tod überraschend kam. Aber keine Träne lief mir über die Wange. Stattdessen setzte ich mich an den Tisch und erfüllte meine Pflicht. War das die Form von Trauer, die ich entwickelt hatte? Eine von außen gleichgültig erscheinende Form? Ich schrieb einen Text, um ihr Andenken aufzubewahren. Im Hintergrund war ich Seelsorger und Imam in Personalunion. Ich funktionierte. Es war schließlich meine Pflicht.
Meine Lehrerin Frau Warncke sagte einmal: “Wer wirklich liebt, der erniedrigt sich auch selbst.” Der Spruch kam nicht von ungefähr. Es war getränkt in Lebensweisheit und Erfahrung auf dem Gebiet der Liebe. Vielleicht bin ich auch deshalb ein hoffnungsloser Romantiker geworden. Wenn wir Menschen wirklich lieben, dann tun wir alles für sie. Wir springen auch über unseren Schatten und verwerfen unsere Prinzipien. Wir erniedrigen uns, wenn wir wissen, dass wir Mist gebaut haben. Und wir erniedrigen uns, wenn wir unsere Liebe gestehen.
Dabei ist Liebe ein so einfaches Wort. Manchmal wird vergessen, was dieses Wort überhaupt so bedeutet. Denn nicht immer muss man “Ich liebe Dich” sagen. Es reicht häufig, wenn wir sagen: “Geht es dir gut?”, “Hast du gut geschlafen?”, “Guten Morgen!”, “Gute Nacht!”, “Bist du gut angekommen?”, “Kann ich dich unterstützen?”. Die Sprache der Liebesbekundung ist so banal, dass manche Menschen es nicht einmal merken, wenn man sie darauf hinweist.
Vielleicht ist das auch mein Problem. Ich trauere der Liebe nach, ohne dass ich etwas im Gegenzug erwarte. Bedingungslos. Das ist eine Form der Liebe, die ich seit Langem nicht gekannt und schon gar nicht in meinem Herzen gespürt habe. Sie basiert aber auf einer Lüge. Denn diese Form der Liebe kommt nur zum Vorschein, wenn man mit etwas nicht abschließen konnte. Und vielleicht muss man auch der Liebe wegen trauern.
Zeit nehmen
Der häufigste Ratschlag, den ich in diesem Jahr bekommen habe: “Nimm dir Zeit.” Das lustige ist, ich habe mir Zeit genommen. Ich habe reflektiert, habe verstanden und akzeptiert. Was ich nicht getan habe, ist, über meinen Verlust in diesem Jahr zu trauern. Die Zeit war abwesend. Ich habe auch nicht akzeptieren können und immer einen Funken Hoffnung gehabt, dass dieser Verlust vielleicht doch nur eine Zwischenstation ist, bevor man sich wieder findet.
Doch vor knapp zwei Wochen kam die trockene Realität auf mich zu. Ich benötigte also doch Zeit, um Dinge zu verarbeiten und zu akzeptieren. Ich benötigte Zeit zum Trauern. Diese habe ich mir genommen. Ich habe wieder nicht geweint, dafür aber in allen Möglichkeiten in einem Multiversum Szenarien abgespielt, wie es hätte sein können. Ich habe um diesen Verlust der Möglichkeiten getrauert.
Ich muss zum Glück nicht mehr funktionieren. Ich muss nicht traurig sein. Ich muss nicht wehmütig in die Vergangenheit blicken. Ich muss nach vorne schauen und das Beste aus meiner Situation machen. Dafür bin ich jetzt bereit und ich lasse einfach alles auf mich zukommen. Und trotzdem, trotz aller Vorsätze, trotz aller Bemühungen und trotz aller Disziplin bleibt am Abend vor dem Schlafengehen nur eine Zeile im Gedächtnis.
Ich vermisse dich. Seit gestern. Heute. Und vermutlich auch morgen.
Iyi geceler, tatli rüyalar, güzel insan.
Trauern