Man nimmt sich viel vor. Eines Tages will man das und jenes tun. Eines Tages wird man dieses und jenes erreicht haben. Träume haben mich in die Situation gebracht, in der ich mich heute befinde. Träume werden mich wieder hier heraus bringen. Ich wandle durch diese Welt nun mit kleinen Schritten. Babysteps. Das habe ich immer wieder meinen „Klienten“ gesagt. Schritt für Schritt ändert man sein Leben, nachdem es zu Bruch gegangen ist. Es ist ein fragiles Konstrukt, dass dann entsteht und vielleicht doch auf festen Säulen bestehen kann.
Sein Leben umzukrempeln ist eine schwierige Sache, ganz von vorn zu beginnen eine ganz andere. Irgendwann war dann dieser Moment. Ich habe es so gehalten, wie ich es noch nie mit einem Thema gehalten habe. Täglich stehe ich vor 1.000 Entscheidungen. Stehe ich auf, lese ich noch diese eine Seite aus dem neuesten Buch? Schaue ich die Serie weiter? Koche ich etwas oder bestelle ich etwas? Und jede Entscheidung hat Konsequenzen. Manchmal meiden wir deshalb die Dinge. Aber wenn man sich endlich entscheidet, das Leben führen zu wollen, das man immer führen wollte, dann hält man auch daran fest.
Ramadan als Anlass für Veränderung
Den Ramadan nehmen wir alle zum Anlass etwas in unserem Leben zu verbessern oder zumindest Ziele zu setzen, die wir erreichen wollen. Manche stellen sich ihre Kalender, ihre Timer und setzen sich tägliche Ziele, irgendetwas mit Gottesdienst zu haben. Ich habe keine großartigen Ziele gesetzt. Ich wollte die bestehende Spiritualität, die ich mir seit einiger Zeit in meinem Privatleben wahre, einfach auch in diesen Monat mitnehmen. Und was soll ich sagen: Es sind die kleinen Dinge.
Und so war die Akündgigung beim Freitagsgebet durch den Haupt-Imam der hiesigen DITIB-Gemeinde, dass im Ramadan ein Imam aus der Türkei das Taraweeh-Gebet leiten werde zunächst nichts besonderes. Am gleichen Abend schrieb ich in meine Freundes-WhatsApp-Gruppe rein: „Jackpot.“ Der Imam, den die türkische Religionsbehörde DIYANET für den gesamten Ramadan zur Moschee abgestellt hat, ist ein Qurra-Hafidh.
Das sind jene „Beschützer“ des Koran, die ihn nicht nur auswendig können, sondern ein tiefes Textverständnis mitbringen, womit es ihnen möglich ist, bei der Rezitation auf die besondere Betonung zu achten, beispielsweise wenn bestimmte Verse mit einer besonderen Betonung gelesen werden müssen. Es ist eine Kunstform, wie sie in Deutschland in aller Regel nicht sehr häufig anzutreffen ist. Und es ist lange her, dass ich so etwas genießen konnte, ohne im Hintergrund etwas zu tun zu haben. In tiefer Demut und bebendem Herzen lausche ich also der Rezitation des Koran im Nacht-Gebet und danach im Taraweeh-Gebet. Gestern war Tag 0. Heute war Tag 1.
Planänderungen
Eigentlich wollte ich beim Iftar bei meinen Eltern sein, aber irgendwie war mir nicht danach, also habe ich abgesagt. Stattdessen habe ich noch meine Einkäufe erledigt und mir eine kleine Suppe und ein Riesen-Eier-Sandwich zum Iftar gemacht. Andere würden anhand der Konstellation sagen: Bäh! Aber ich koche, was mir schmeckt und gefällt. Ich würde gerne für jemand anderen kochen, aber ich bin allein. Deal with it.
Für mich ist es mittlerweile wichtig, mich wohlzufühlen mit den Dingen, um mich herum. Es tut mir gerade gut, mich zurückzuziehen – von allen Dingen – und mich nur noch auf das Wesentliche und Wichtige in meinem Leben zu konzentrieren. Priorisierung heißt das Stichwort. Um mich herum passiert nämlich gerade so viel Mist, dass es ein Anruf heute sehr gut zum Ausdruck brachte: „Alle sind irgendwie total angespannt. Du wirkst aber so ausgeglichen.“ Es wirkt nur so, würde ich normalerweise sagen. Aber aktuell interessiert mich alles um mich herum nur noch sehr wenig. Ich habe mein Gleichgewicht gefunden und verfolge meine Ziele.
Spiritualität in der Gemeinschaft
Zum Nachtgebet gehe ich wieder in die hiesige Moschee. Ich setze mich diesmal in die vorderen Reihen. Der Imam erzählt gerade über die Grundlagen des Ramadans. Dann beendet er seinen Vortrag und der Adhan erklingt. Ich drehe mich um, weil ich die Stimme des Muezzin kenne. Es ist ein alter Weggefährte und Mitschüler aus der Koranschule von früher. Seine Stimme ist zwar immer noch gleich, aber er hat stark nachgelassen. Wir werden alle vermutlich alt. Er sieht mich, aber erkennt mich nicht.
Das Taraweeh-Gebet nach dem Nacht-Gebet macht mir heute etwas zu schaffen. Ich habe Kopfschmerzen und mein Kopf tut immer dann weh, wenn ich die Neige gehe. Keine guten Voraussetzungen für das Gebet. Doch im Gebet verschwinden irgendwann diese körperlichen Einschränkungen. Der Geist ist willig, der Körper geht mit. Das Herz will, was das Herz begehrt. Die Pausen sind gefüllt mit Gedichten, Qasidas und Nasheeds. Es ist ein Event für die Herzen und Seelen der Gläubigen.
Das Gebet endet, und ich freue mich auf diese Spezialität im Ramadan. Das Witr-Gebet wird im Ramadan traditionell zusammen verrichtet. Wir sind irgendwann fertig und ich begebe mich auf den Weg nach Hause. Ich muss noch einen Anruf tätigen. Ein Bruder wartet auf meinen Rückruf, er benötigt Unterstützung bei der Ausformulierung für ein Anschreiben für einen neuen Job.
Viel zu viel Zeit
Ich sehe, dass der Kaffee-Laden auch diesen Ramadan Nachts geöffnet hat. Ich gehe hin, will mir einen Kaffee gönnen. Die Schlange ist ran, irgendwann habe ich meinen Kaffee in der Hand. Will zahlen, aber Kartenzahlung ist nicht. Abdul sagt: „Geht aufs Haus.“ Ich sage: „Kommt nicht in die Tüte, ich zahle später. Laufe ja nicht weg.“
Wir quatschen und blödeln noch ein bisschen mit ein paar Bekannten. Ich rauche eine Kippe und mache mich dann auf den Weg. Zuhause angekommen schalte ich ChatGPT an, lasse die Bewerbung schreiben und korrigiere hier und da noch ein paar Sätze aus. Die Mail geht raus. Die Nacht hat noch nicht mal wirklich begonnen und ich frage mich, was ich eigentlich heute Nacht machen möchte. Es ist schließlich noch Wochenende und keine Arbeit erwartet mich morgen.
Eines Tages oder Tag Eins?