Nach seinem Erfolg „Desintegriert Euch!“ meldet sich Max Czollek mit einem neuen Essay-Band zurück. Gegenwartsbewältigung heißt seine neue Polemik und ist voller wichtiger und richtiger Feststellungen. Doch leider gelingt es Czollek nicht eine Lösung für die zukünftige Entwicklung unseres Landes vorzustellen, die tragfähig ist. Stattdessen zeichnet sich dieses Werk darin aus, dass es zu zivilem Ungehorsam und einer Revolution anstachelt. Erneut muss man sagen: Der Mann hat ja im Grunde recht. Doch die Mittel und Wege scheinen diesmal radikaler gezeichnet als früher.
So kritisiert Czollek zu Recht die rasante Einschränkung von Freiheitsrechten im Zuge der Corona-Krise. Gleichzeitig stellt er die Frage auf, was passiert wäre, wären eben nicht „weiße“ Deutsche von Corona betroffen, sondern sagen wir mal schwarze Männer? Er zieht den Vergleich zu früheren Pandemien in Afrika, wo der HI-Virus nicht so viel Engagement in der Welt vorgebracht hat. Und Czollek klagt uns allesamt an, die wir nun „Kompliz*innen“ dieses Staates geworden sind, indem wir uns mit solidarisch gezeigt haben, das „manche Menschen verrecken lässt und andere nicht.“
Leitkultur – jüdisch-muslimisch
Seine andere Betrachtung gilt dem Thema der Leitkultur, die Czollek seziert, auseinandernimmt, entstellt und enttarnt. Selten ist es einem Autor gelungen die Leitkultur-Debatten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte so zu demaskieren und als das hinzustellen, was sie sind: Eine ausgrenzende Idee, die der Dominanzkultur unter dem Deckmantel einer „Jüdisch-Christlichen“-Tradition eine Berechtigung zuweisen soll, um Muslim*innen auszugrenzen. Auf den Arm nehmen tut er diese Idee auch mit der neuen Leitkultur einer jüdisch-muslimischen Tradition.
„Es genügt nicht, mehr Zäune und Sicherheitskameras aufzustellen, damit sich Ereignisse wie die in von Halle oder Hanau nicht wiederholen. Es bedarf nicht nur größerer gesellschaftlicher Sicherheit – sondern einer anderen Gesellschaft“
Max Czollek, Gegenwartsbewältigung, S. 120
Was in diesem Buch mehr ist, als bisher, ist der Aspekt der Kultur, der kulturellen Ausbeutung und der Dialektik des Bösen. So wird die Rolle der Kulturschaffenden, heute und gestern, genauso analysiert, wie das Verhalten der Politik zum nie verschwundenen, immer schon da gewesenen, rechten Nationalsozialismus. Wieso die Hufeisentheorie völlig Banane ist und warum uns Debatten über Links nicht helfen, um das echte Problem von Rechts zu bekämpfen werden ebenso analysiert, wie die Feindbildgestaltung in Form von Flüchtlingen, Migrant*innen und Muslim*innen.
Seziert, analysiert und radikalisiert
Czollek seziert gnadenlos die Themen der letzten Monate, aber auch Jahre und Jahrzehnte. Er geht das Thema Assimilation ebenso an, wie die Fremdwerdung von Minderheiten aufgrund der Wiedervereinigung Deutschlands. Der aufflammende Rassismus und die Gewalt, die dahinter stecken, sind ebenso ein Thema wie Intersektionalität. Er analysiert den Rassismus, das koloniale Erbe, den Antisemitismus, den Holocaust und damit verbunden das Ausnutzen von Alibi-Jüdinnen und Juden. Es ist selbstkritischer und zugleich hochaktueller Stoff, der selbst die jüngsten Geschehnisse, beispielsweise in Thüringen, behandelt. Insgesamt bleibt sich Czollek tatsächlich treu und ebnet den Weg, den er sieht, für eine plurale Gesellschaft, die den Fehlern der früheren Gesellschaften absagt.
Dabei driftet aber auch der Autor in seinem Anliegen weit weg von einem einfachen Ideenkatalog. Was wir hier finden ist radikal und in seiner Form auch Revolutionär. Doch die Gedanken, die Czollek mit uns teilt, sind ebenso ein Produkt einer gewissen Freiheit, wie er sie schon bei „Desintegriert euch!“ hatte. Als privilegierter Mensch, als Jude in Deutschland, kann er solche Dinge fordern. Andere müssten Angst haben, dass sie festgenommen oder zumindest vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
Besser erträglich dieses Deutschland, dank Max Czollek
Es ist teilweise Anti-Deutsches Zeug, dass wir in diesem Buch lesen. Doch an der Kritik, die Czollek bringt, ist auch etwas dran. Das macht ihn vermutlich deshalb auch so sympathisch. Doch will man den radikalen Weg, den Czollek vorschlägt, tatsächlich gehen? Die Frage ist dann aber auch, wie sieht denn die Alternative zu seinem Vorschlag aus? Da ist eben eine gewisse Leere, in die Czollek gerade reinspringt, weil weder unsere Intellektuellen noch die politische Führung in diesem Land imstande ist eine Vision für die Zukunft aufzubauen.
„Die Geschichte der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen, die nicht glauben konnten, was ihnen widerfuhr, lehrt, wie fundamental Ideen wie Heimat, Leitkultur und Integration Menschen dem Staat ausliefern können.“
Max Czollek, Gegenwartsbewältigung, S. 155
Wir sind aktuell in einem Muster gefangen, dass durch kurzfristige Entscheidungen geprägt ist. In solchen Zeiten tun Einwände, seien sie auch als Polemik getarnt, gut. Czollek hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Die Gegenwart zu bewältigen wird damit jedoch nicht leichter. Vielmehr schafft es Czollek, dass man die Gegenwart etwas besser erträgt – mit all ihren Schrecken, Fehlern und furchterregenden Realitäten. Am Ende dann doch leider viel zu kurz. Vielleicht kommt ja aber ein dritter Band. Es würde nicht schaden.
Autor: Max Czollek
Verlag: Hanser
ISBN: 9783446267725
Buchbesprechung: Gegenwartsbewältigung von Max Czollek