Ist der Holocaust nur ein singuläres und nicht wiederholbares Unglück in der Menschheitsgeschichte? Darf man den Faschismus einzig und allein als ein historisches Phänomen begreifen und einordnen? Selten gab es eine Zeit in meinem Leben, in der diese Fragen mutwillig gestellt und von der Gesellschaft so oft falsch beantwortet werden konnten. Allein die repräsentative Antwort von 22 % der deutschen Bevölkerung auf eine jüngste Umfrage von YouGov, anlässlich des Gedenkens an die Schoa, lässt einen erschrecken und auch verzweifeln.
In solchen Zeiten vertieft man sich lieber in die Literatur als sich mit dem Gemüt von geschichtsvergessenen Menschen herumzuplagen. Das bringt dann auch Autoren wie Umberto Eco auf den Plan (verstorben 2016), der schon 1995 und 1997 zuordnen konnte, wohin sich unser Kontinent politisch hinbewegt. Eco schilderte 1995 bei einem Vortrag in New York seine persönliche (und italienisch geprägte) Sichtweise auf den sog. Ur-Faschismus und durch welche 14 Merkmale sich dieser einordnen und erkennen lässt. Und dabei kommen auch interessante Erkenntnisse für unsere Tage hervor.
Beispielsweise, wenn Eco beschreibt, warum der qualitative Populismus in unseren Tagen nicht mehr die Bühne eines Nürnberger Reichsparteitagsgeländes benötigt.
In unserer Zukunft bietet sich ein TV- oder Internet-Populismus an, bei dem die emotionale Antwort einer Gruppe ausgewählter Bürger als „Stimme des Volkes“ präsentiert und akzeptiert werden kann.
Der ewige Faschismus, Umberto Eco. Erschienen im Hanser Verlag. S. 38
Migration und Intoleranz
1997 hielt Eco verschiedene Vorträge, darunter auch zwei zu den Themenbereichen Immigration und Migration sowie zur Intoleranz. In seinem Vortrag zur Migration beschreibt Eco die geschichtlichen Hintergründe der Migrationsbewegungen, welche historischen Vorläufer es schon in der Menschheitsgeschichte gab und welche Veränderungen diese verursacht haben. Eco weist dabei aber auch darauf hin, dass wir es in Europa (schon 1997) nicht mit einer Immigration, sondern mit einer Migration zu tun haben, die nicht mehr fragt, ob sie gezielt und gesteuert ins Land darf, sondern an die Pforten Europas anklopft. Europa wird aus der Sicht von Eco zu einem multiethnischen Land werden – früher oder später.
In seinem Vortrag zur Intoleranz hebt Eco hingegen die Gefahren und Stufen von Intoleranz hervor, die sich über Fundamentalismus bis hin zu political correctness erstrecken können. Dabei muss Fundamentalismus laut Eco nicht zwangsläufig intolerant sein und political correctness kann diskriminierend sein, solange auf die Wortwahl geachtet wird. Interessant ist, dass Eco eine jedem Menschen innewohnende Intoleranz ausmacht, die durch Doktrinen und vorhandene Bodensätze ausgenützt würden. So habe der Volksglaube an Hexen zur Hexenverbrennung und die antijüdische Polemik der Kirchenväter zum „wissenschaftlichen“ Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und damit zum Hass auf alles Jüdische geführt.
Diese Erkenntnisse, die Eco schon 1995 und 1997 mit der Öffentlichkeit teilte und in der Materie viel gewaltiger sind, als man sie hier zusammenfassen könnte, sagten aber bereits die Diskussionen und das Dilemma unserer jetzigen Zeit voraus. Der „ewige Faschismus“ oder Ur-Faschismus zehrt an vorhandenen Mythen und vermeintlichen „Wahrheiten“. Er vergiftet unser politisches wie weltliches Klima und lässt die Menschen glauben, sie könnten etwas verändern oder müssten die Gegebenheiten der offenen Gesellschaft nicht akzeptieren. Auch Eco wies auf diese Problematiken hin und empfahl ganz einfach eine bessere Erziehung unserer Kinder.
Fazit und Bewertung von „Der ewige Faschismus“
Insgesamt ein spannendes Buch, dass uns im Hanser-Verlag präsentiert wird und verschiedene Reden und Vorträge von Eco zusammenfasst. Dazu gibt es noch ein interessantes Editorial des bekannten Investigativ-Journalisten Roberto Saviano. Ecos Werk gibt uns nicht nur einen Einblick auf die Frage, was den Faschismus ausmacht, sondern auch Antworten, wie wir diesen Faschismus in neuen Gewändern entlarven und identifizieren können. Es ist ein Appell an uns, den Faschismus in neuen Gewändern nicht gewähren zu lassen.
Dabei wird mit jeder Seite des Buches Bezug auf unsere Zeit und unseren Moment im Hier und Jetzt genommen. Eco zeigt, in den Worten von Saviano, warum „ein riesiger Fehler es ist, den Faschismus als ausschließlich historisches Phänomen zu begreifen.“ Er zeigt uns aber auch die Gefahr, die in jedem von uns innewohnt und ausbrechen könnte. Es sollte uns eine Warnung sein, wenn der Holocaust verharmlost wird und 22 % der Menschen in unserem Land meinen, das Gedenken an die Opfer der Schoa nehme zu viel Raum ein.
Titel: Der ewige Faschismus
Autor: Umberto Eco
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-26576-9
Umberto Eco: Der ewige Faschismus