Ich stehe mit dem Buch an der Kasse. Es ist das erste Mal, dass ich in der Buchhandlung Lüdemann in Wilhelmsburg ein Buch kaufen werde. Ich schlenderte daran vorbei und sah das Buch im Schaufenster. Meine normale Absteige ist das P&B in der Wandelhalle oder das Thalia im Phoenix Center. Doch, wenn man schon seit über einem Jahr wieder in der alten Hood wohnt, schaut man sich auch an, was es so an Möglichkeiten in der Nähe für Leseenthusiasten wie mich gibt.

Die Dame an der Kasse lächelt mich an. „Mein Lieblingsautor“, sagt sie. Ich lächle zurück. „Ja, ich kenne ihn persönlich“, sage ich voller Stolz in den Augen. Sie fängt ein Gespräch an und teilt mir mit, dass er im Oktober zu einer Lesung kommt. Ich bin überwältigt und voller Vorfreude. Ich zeige der Dame ein Video von der Lesung in Bad Alexandersbad. Der Herr hinter ihr reicht mir unaufgefordert eine Visitenkarte mit dem genauen Datum der Lesung und empfiehlt mir, den Newsletter zu abonnieren.

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Meine erste Autorenlesung hatte ich mit Feridun Zaimoğlu

Es gibt so Dinge in meinem Leben, die ich gerne tun wollte, aber nie eine Gelegenheit hatte. Eine Autorenlesung besuchen, zum Beispiel. Diesen Wunsch erfüllte ich mir erst im November 2024 und das mehr oder weniger eher zufällig. Ich war auf einer Tagung und zur Agenda gehörte auch eine öffentliche Lesung mit Feridun Zaimoğlu.

Im Anschluss an die Lesung kam man wieder ins Gespräch, und es war faszinierend, ihn über seine neuesten und älteren Projekte sprechen zu hören. Gleichzeitig merkte man, dass sich Zaimoğlu etwas verändert hatte. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber hatte ihn noch vor ein paar Jahren eine andere Aura umgeben, war es dieses Mal ein deutlich nüchterner und zugleich ungemein sympathischer Typ.

30 Jahre „Kanak Sprak“

Bei meiner ersten Begegnung war einfach etwas zwischen uns. Ich merkte, dass er was zu trinken brauchte. Einen Kaffee. Ich ging rüber und holte ihm welchen. Er bedankte sich, hatte nicht danach gefragt und war sichtlich erleichtert. Wir sprachen damals erst einmal gar nichts. Und am Ende hatte unsere Begegnung aber etwas von Mystik. Im Herzen ein Bruder, an den man denkt und es wirkt so, als würde man sich ewig kennen. Im Äußeren ein Rebell. In den Büchern ein Geschichtenerzähler.

Dieser Mann hatte eine Ära geprägt. Sein Werk „Kanak Sprak“ ist mittlerweile 30 Jahre alt und gehört heute zum Kanon jedes guten Germanistik-Studiengangs. Er blieb sich selbst treu und dabei wirkte er aber nie überheblich. Im Gegenteil: Bescheidenheit – sowohl im Äußeren als auch im Leben – waren stets seine Begleiter. Und ich finde, er hat in all den Jahren nach seinem großartigen Werk immer eine wichtige, nachdenkliche und mahnende Stimme in Debatten eingenommen.

Sohn ohne Vater

Sohn ohne Vater“ ist eines seiner jüngst erschienenen Bücher. Es ist ein persönliches Buch, in dem wohl mehr von Zaimoğlu drinsteckt, als je zuvor. Doch so genau kann man das nicht sagen. Die Story ist einfach erzählt. Ein Autor verliert seinen Vater. Er kann nicht bei der Beerdigung sein und weiß nicht, wie er es schaffen soll, das Grab seines Vaters zu besuchen. Er hat Flugangst und ist pleite. Freunde helfen ihm.

Es beginnt eine Reise voller Ungewissheit, voller nachdenklicher Momente, voller Erlebnisse, voller Abenteuer. Es wird nachgedacht, es wird gegrübelt, es wird kolportiert, es wird angenommen, es wird abgelehnt, es wird auseinandergesetzt, es wird sich befasst, sich beschäftigt, sich besonnen, es wird ausgebrütet, es wird durchdacht, sinniert, überlegt, überdenkt, reflektiert und am Ende auch durchdekliniert.

Was ist Fiktion, was Wirklichkeit?

Sohn ohne Vater ist ein berührendes Werk. Beim Lesen schmunzelt man über die eine oder andere Geschichte, aber immer wieder zuckt man zusammen. Es sind Rückblenden, Geschichten aus der eigenen Jugend, aus dem Leben des Vaters, aus Erlebnissen als Familie in Deutschland und von schulischen Kunstausstellungen.

Ist das wirklich so passiert? Erzählt uns der Autor hier eine wahre Geschichte, oder ist es erfunden? Das Fatale an allem, was hier niedergeschrieben wurde ist, dass man nicht unterscheiden kann, was noch Fiktion und was Wirklichkeit ist. Und das macht das Werk von Zaimoğlu umso interessanter. Nur selten gelingt es Autoren die Leser so zu fesseln, dass sie jede Geschichte, jeder Einwurf einmal aufrüttelt.

Garniert sind die Geschichten häufig mit Mottos und Lebensweisheiten. Ebenso stellt Zaimoğlu auch immer wieder den „Volksglauben“ im türkischsprachigen Milieu vor und vermittelt damit mehr über den Volks-Islam und die gelebte Praxis, die mit der bekannten universitären Theologie kaum bis gar nichts zu tun hat.

Die Ambivalenz zwischen „Wer bin ich“ und „Was ist aus mir geworden“ wird in Rückblenden auf das Leben des Vaters, auf Erlebnisse und Geschichten immer wieder deutlich. Der Autor, der vermutlich auch autobiografisch als Autor in dieser Geschichte erscheint, rechnet mit seinem Leben ab, während er sich von seinem Vater verabschieden möchte.

Feridun Zaimoğlu im Mai 2022 in Bonn

Ergreifendes Werk und Autor verdienen mehr Aufmerksamkeit

Zaimoğlu hat eine tiefgreifende, transzendische und vor allem berührende Story niedergeschrieben. Es fesselt, es bestürzt und reißt mit. Kein Wunder also, dass das Werk auch bereits erste Auszeichnungen erhalten hat, wie den niedersächsischen Literaturpreis (mit 20.000 € dotiert und inklusive Lesereise durch niedersächsische Literaturhäuser). Sohn ohne Vater dringt in die tiefen Gräben ein, die einem Autor über den Weg laufen und berichtet über Liebe, Familie, Freundschaft, Religion und das heilende Wunder einer Reise. So gesehen hat Zaimoğlu mit dieser Geschichte über Gefühle und Lebenssituation ein Meisterwerk abgeliefert.

Es ist dem verteufelten Feuilleton zu verdanken, dass dieses Werk weiterhin nur wenig Aufmerksamkeit bekommt. Schade, wenn stattdessen auf Massenware in Booktoks und sonstige Hirnverbrenner hingewiesen wird oder der nächste Krimi auf den Bestseller-Listen landet. Dabei ist Zaimoğlus Werk eine Zustandsbeschreibung der Realität vieler Menschen in diesem Land. Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für ein wichtiges Lebenswerk wäre angemessen.

Bewertung: ★★★★★ (5 von 5 Sternen)

Buchdetails

Titel: Sohn ohne Vater
Autor: Feridun Zaimoğlu
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-00588-2
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