Liebe Sara,
vermutlich wirst du dich beim Lesen dieses Textes fragen, warum ich überhaupt zu diesem Thema schreibe. Es liegt an unserer Familiengeschichte. Ich möchte dir heute nämlich etwas über Meister Remzi (Remzi usta) erzählen.
Remzi Özdaş hatte ein kleines Geschäft in einer Seitengasse im Zentrum von Çorum, nahe dem osmanischen Glockenturm. Es handelte sich um ein Geschäft für Galanteriewaren. Das Wort stammt ursprünglich aus dem Französischen und gilt im Deutschen als veraltet. Heutzutage spricht niemand mehr von solchen Geschäften. Im Türkischen entspricht das Wort “Tuhafiyeci” dem damaligen Geschäft von Meister Remzi.
Im Laden von Meister Remzi konnte man fast alle möglichen Farben und Formen von Fäden, aber auch sonstige “modische Accessoires” wie Knöpfe, Armbänder, Schals oder auch Fächer finden. Es war ein Fachgeschäft und in einer Zeit, in der es noch “in“ war seine Kleidung nicht einfach wegzuschmeißen, sondern zu flicken und zu reparieren, erlebte der Laden von Meister Remzi seine größte Beliebtheit. Er war ein sehr disziplinierter, weiser, freundlicher und vor allem hilfsbereiter Mensch.
Er nahm deinen Onkel auf
Wir lernten Meister Remzi als Familie erst kennen, als dein Onkel von deinem Großvater in die Türkei geschickt wurde, um dort das religiöse Gymnasium (İmam Hatip Schule) zu besuchen. Diese Zeit war sehr hart für deinen Onkel, aber auch für uns. Wir waren als Familie eigentlich nie vorher getrennt gewesen. Doch bis zu seinem Abschluss an dieser Schule war dein Onkel komplett auf sich allein gestellt und kehrte erst nach seinem erfolgreichen Schulabschluss zurück nach Deutschland. Er erzählt heute kaum etwas von diesem Kapitel in seinem Leben. Ich kann ihn gut verstehen.
Dein Großvater wollte damals, dass dein Onkel sein Taschengeld selbst verdient und eigenständig zurechtfindet. Dein Großvater hatte Sorge, dass sein ältester Sohn sonst auf die schiefe Bahn gerät und vor allem ehrliche Arbeit nicht zu schätzen weiß. Es war der Wunsch deines Großvaters, dass sein Sohn erst lernen sollte, was harte und ehrliche Arbeit bedeutet. Auf der Suche nach einem einfachen Job, wo er auch Disziplin und Demut lernen kann, stieß dein Großvater auf Meister Remzi.
Disziplin und Sommerjobs
Dieser Mann verkörperte alles, was harte und ehrliche Arbeit ausmacht, mit einem ideellen, aber demütigen Herzen. Vielleicht kommt es von daher, dass in unserer Familie das Handwerk, vor allem solche Künste wie Schneiderei, sehr geachtet wird. Dein Onkel verdiente sich nach der Schule, die für ihn mehr ein Internat als eine einfache Lehreinrichtung war, etwas bei Meister Remzi dazu. Dieser war sehr hart zu ihm, wenn es um die täglichen Aufgaben bei der Arbeit ging. Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, disziplinierte und ordentliche Arbeit lernte dein Onkel hier, von einem Mann, der zeit seines Lebens geachtet und in seinem Job einer der letzten Koryphäen war.
Meister Remzi lehrte aber auch den Respekt vor und für die Menschen. Ich erinnere mich nur dunkel daran, aber in den Sommermonaten, wo wir deinen Onkel besuchten und die Zeit endlich wieder bei ihm verbringen konnten, habe ich auch bei Meister Remzi hereingeschaut. Ich verdiente mir auch ein fiktives “Taschengeld”. Dabei war es mehr ein Kennenlernen und spielen mit den verschiedenen Artikeln in seinem Laden. Mich hatten vor allem die verschiedenen und unterschiedlichen Ausführungen der Knöpfe irritiert, die es in seinem Laden gab. Wann immer ich da war, gab es plötzlich kalte Getränke, statt des üblichen Tees. Und wo es mir möglich war, schaute ich Meister Remzi über die Schulter bei seiner Arbeit.
Organisation und System
Meister Remzi wusste immer auf Nachfrage, in welchen der verschiedenen Fächer, die teilweise bis an die hohe Decke gingen, welche Knöpfe zu finden waren. Wenn ein Kunde hereinkam und nach einem Produkt oder einer ganz bestimmten Knopfform oder Ausführung fragte, dann konnte Meister Remzi entweder nur zur Ware greifen oder direkt abwinken. Es gab kein: “Ich muss mal nachschauen.“ Er wusste einfach, was er gekauft und in welches Fach er es abgelegt hatte. Das typische Hinhalten und Aufschwatzen von Produkten, nach denen niemand gefragt hatte, gab es bei ihm nicht.
Sein Ordnungssystem im Laden hatte er sich, wie er einmal erzählte, von den Hafız (Koran-Bewahrern) abgeschaut. Er hatte sich einfach am System des Auswendiglernens des Korans nach osmanischer Tradition orientiert. So hatte er seine Ordnung so geschaffen, dass er zuerst sich immer merkte, was im letzten Fach in seinem Ordnungssystem drin ist. Und dies Regal für Regal, Spalte für Spalte. Dann begann er sich zu merken, welches Produkt im vorletzten Regal abgelegt war, und immer so weiter. Es gab kaum Beschriftungen an den einzelnen Fächern und dennoch wusste er, auch aus Erfahrung, wo sich welches Produkt und welche Form befand.
Ein Teil unserer Kindheit
Für deinen Onkel war und ist Meister Remzi immer ein wichtiger Mensch gewesen. Bis zu seinem Tod hat er ihn jedoch nicht mehr häufig besuchen können. Dafür besuchten dein Großvater und ich immer wieder Meister Remzi und seine Familie Zuhause.
Ich langweilte mich nie bei ihm, obwohl es kein Spielzeug bei ihm im Haus gab. Er hatte ein kleines Haus mit einem kleinen Garten und mehreren Apfelbäumen. Und wenn ich doch irgendwie etwas anderes erleben wollte, ging ich raus vor die Tür und konnte dort an den Seitenstraßen seines Hauses immer Kinder treffen, die gerade Fußball spielten oder Seil hüpfen.
Seine Frau und er waren genügsame und herzensliebe Menschen. Sie waren aber auch sehr schnell gealtert und er hatte kaum seine Rente genießen können, ehe er sehr früh verstarb. Noch als es ihm gesundheitlich sehr schlecht ging, fragte er immer wieder nach uns und unserem Befinden.
Vermächtnis
Wir haben das Andenken an ihn gewahrt. Noch heute stehen wir zu seinem Sohn, einem erfolgreichen Ingenieur und Architekten im Staatsdienst, in Kontakt. Und wo immer sich die Chance bietet, besuchen wir auch die Familie und sie besuchen uns. Vor ein paar Jahren haben wir gemeinsam aufgrund eines harten Schicksalsschlags gelitten und unser Leid geteilt. Doch ich muss gestehen, dass ich erst kürzlich wieder, nach vielen Jahren des Vergessens, an Meister Remzi zurückdenken musste.
Wenn du eines Tages diese Zeilen liest, dann möchte ich, dass du die Familie erfragst, in diesen schönen Garten von Meister Remzis Haus gehst und wenn du es finden solltest, das Grab von Meister Remzi mit kaltem Wasser bewässerst und ein Bittgebet für ihn sprichst. Rezitiere den Koran und verweile eine kurze Weile am Grab dieses Menschen, der uns in unserer Kindheit geprägt hat.
Denke dabei daran, dass dieser Mensch uns als Kindern beigebracht hat, dass wir mit Genügsamkeit und ehrlicher Arbeit mehr Menschen helfen können, als mit einem vermeintlichen Bildungsaufstieg oder einem großen Gehalt für irgendeine Firma. Er war ein erfolgreiches Vorbild. Sei du bitte auch ein Vorbild.