Tamer Çoban, langjähriger Sozialarbeiter, Sekretär, Moscheeführer, Bildungsbeauftragter der Centrum-Moschee Hamburg und des Bündnisses der Islamischen Gemeinden und zuletzt auch als Fundraiser für die Hilfsorganisation Hasene tätig, ist nach langer Krankheit gestern Nacht (27.04.2019) verstorben. – Ein persönlicher Nachruf.
Wir räumten damals gerade eine Büro-Räumlichkeit aus, die zur Centrum-Moschee gehörte. Es klingelte am Telefon. Es muss 1998/1999 gewesen sein. Ibo bekam am Telefon mehrere Fragen gestellt und antwortete irgendwie sehr höflich, immer mit der gleichen Wortwahl: „Ja, natürlich liebe Tante. Ja, natürlich.“ Er unterhielt sich wohl mit einer Frau, dachte ich, bis er zum Schluss auflegte und völlig verwirrt erschien: „Alter, das war der neue Tamer abi am Telefon. Und ich dachte die ganze Zeit im Gespräch, das sei eine Frau. Der wird mich doch jetzt voll hassen.“
Tamer Çoban hatte eine sehr sanfte und hohe Stimme. Dadurch schaffte er es am Telefon immer wieder, dass man ihn für eine Frau hielt. Er korrigierte seine Gegenüber auch meistens nicht. Es kam sehr häufig vor, dass beispielsweise Moscheeführungen gebucht wurden und die Leute auf Frau Çoban warteten, aber Herrn Çoban geliefert bekamen. Er nahm diese Verwechslung niemandem übel. Und selbst mit Ibo und mir rauchte er im Anschluss des blöd für Ibo gelaufenen Gesprächs eine Zigarette. Und lachte sich schlapp, dass Ibo die ganze Zeit sich versuchte zu entschuldigen. Es war ihm ein Spaß.
Gemeinsam Rauchen ist aber auch nicht ganz richtig. Besser gesagt, er hatte uns dabei erwischt und statt mit uns zu schimpfen, zündete er sich selbst eine an und hielt uns einen Vortrag darüber, wie jung wir sind und warum wir mit dem Rauchen aufhören sollten, statt wie er weiter zu rauchen. Das war das erste Mal, dass ich Tamer Çoban begegnete. Unsere Wege kreuzten sich mehrfach, und ich hatte das Privileg, von einem der besten Menschen zu lernen, die mir in meinem Leben begegnet sind.
Nach seinem Studium und einer schwierigen Joblage entschied sich Tamer abi, wie ich ihn nach unserer ersten Begegnung nur noch nannte, nach Hamburg zu ziehen und nicht in seiner Heimatstadt Bremen zu bleiben. Er wurde in der Hamburger Centrum-Moschee eingestellt und arbeitete noch bis zuletzt innerhalb der Räumlichkeiten der Gemeinde.
Der Moscheeführer
Ich habe ihn mehrfach ehrenamtlich begleitet bei Moscheeführungen in der Centrum-Moschee. Es war quasi ein Ausbildungsprogramm. Tamer Çoban etablierte ein System und eine Terminierung für Moscheeführungen. Innerhalb der Centrum-Moschee gab es nach guter Vorarbeit von ihm, kaum noch einen Tag, an dem es keine Moscheeführung für Interessierte gab. Er bildete dafür sein eigenes Team aus, die heute alle (außer mir) noch aktiv sind und Moscheeführungen in verschiedenen Gemeinden anbieten. Dabei hatte Tamer abi vor allem das stupide Erzählen und Übersetzen beendet. Es war ein Event, wenn man mit ihm eine Moscheeführung machte.
Es war vor allem aber eine einfühlsame Reise eines großartigen Menschen, der einen Blick in den Islam gab. In all den Jahren hat er mehreren Tausenden Menschen, vor allem Schulklassen, den Islam näher gebracht. Die Menschen haben sich dafür zahlreich bedankt, einige Menschen haben sich danach stärker mit dem Islam auseinandergesetzt und sind sogar konvertiert. Andere Menschen haben seinen Einsatz – der letztlich im interreligiösen Dialog verortet war – gewürdigt und sich in verschiedenen Dankesschreiben bei ihm bedankt. Lehrkörper wollten oft nur ihn als Moscheeführer haben, weil sie sich bei ihm geborgen und bestens betreut fühlten und vor allem gab es immer wieder Spenden von Menschen, die gar keine Muslime waren, weil sie die Arbeit von Tamer Çoban begeisterte.
Tamer abi beendete die völlige Abhängigkeit von türkischen Imamen bei Moscheeführungen. Bevor er Hand angelegt hatte, war es noch üblich gewesen, die Ansagen von Imamen, die kein Wort deutsch konnten, zu übersetzen. Es wurden Fachbücher angelegt, von Studenten und Akademikern, die ihr Grundlagenwissen zum Thema Islam gesammelt haben. Es wurden Fragenkataloge erstellt, um Fragen des Publikums selbst zu beantworten. Dabei waren die Antworten keineswegs vorgegeben. Es waren Hilfestellungen, vor allem, um sich auch dem Publikum anzunähern. Wenn eine Moscheeführung erstmals in Deutschland ein sozialpädagogisches und didaktisches Konzept erhalten hat, dann haben wir das Tamer Coban zu verdanken.
Der Sekretär
Mein Praktikum nach meinem Abschluss wollte ich komplett im Einzelhandel verbringen. Allerdings ging einiges schief. Der damalige Sekretär der Centrum-Moschee hatte kurzerhand gekündigt und Tamer abi war damals, es muss 2003/2004 gewesen sein, kurze Zeit gesundheitlich ausgefallen. Man bat mich, neben meinem Praktikum auch hier einzuspringen. Ich kümmerte mich um die Anrufe, schrieb und beantwortete Briefe und war auf einem völligen Blindflug unterwegs. Glücklicherweise kam Tamer abi nach einer Zeit wieder zurück. Es war ein Glücksfall für mich und ich war eine Geduldsprobe für ihn.
Bei ihm lernte ich, wie man ein Sekretariat führt, wie man mit den türkeistämmigen Menschen umgeht, die verschiedenste Anliegen haben und dafür zu einem rennen, wie man selbst bei Beleidigungen still und ruhig bleibt, wie man konstruktive Kritik bereitet und – ja – wie man türkischen Tee ordentlich kocht. Es war eine besondere Zeit, in der ich viel lernte und vor allem viel mitnehmen konnte. Auch wenn ich es nicht erzählte, aber ich lernte von Tamer abi auch, wie man einen echten Windsor Knoten bindet und entschied mich doch für eine lässigere Variante. Die Menschen rannten ihm die Bude ein, wenn sie eine ordentlich gebundene Krawatte haben wollten. Aber selbst das lernte ich bei Tamer abi: Disziplin und Tugend.
Es gab keinen Moment, in dem dieser Mensch in drei Jahren enger Zusammenarbeit, je ein schlechtes Wort über andere verlor, noch so richtig sauer wurde. Er behauptete manchmal, in sehr seltenen Fällen, er sei sauer, aber das würden wir Normalsterblichen vermutlich nur als echauffiert bezeichnen. Er prägte einen Arbeitsstil, der von Pragmatismus geprägt war. Ihm ging es darum, die Dinge schnell abzuarbeiten und ordentlich, statt perfekt. „In einem Büro wirst du nie Ordnung schaffen“, sagte er und ergänzte: „ohne ein vernünftiges System. Und manchmal muss das System pragmatisch sein.“ Meine ersten Akten- und Ordner-Systeme habe ich mir bei ihm abgeschaut und ich lernte mit prekären Arbeitsverhältnissen umzugehen. Ich durfte ihn als Sekretär beerben. Das war ein hartes und schwieriges Erbe. Und ich habe nie seine hinterlassenen Fußstapfen füllen können.
Der Sozialarbeiter
Als Tamer abi seinerzeit gebeten wurde, das Sekretariat aufzugeben und sich stattdessen mehr um Sozialarbeit zu kümmern, hat ihn das sehr geschmerzt. Auch, weil er seinen Ersatz selbst mit ausgebildet hatte. Er hat es sich natürlich nicht anmerken lassen, aber mehrere Jahre später haben wir darüber gesprochen. Am Ende war er aber über die damalige Entscheidung doch glücklich, weil sich dadurch neue Möglichkeiten für ihn ergeben hatten. Zwar hatte er schon als Sekretär viel als Sozialarbeiter zu tun, aber jetzt hatte er tatsächlich mehr Zeit für seinen Job und – aus meiner Sicht – Berufung.
Er kümmerte sich fortan um das Wesentliche der Gemeindearbeit: Die Menschen. Tamer Çoban war ein Segen für die Centrum-Moschee. Jede Kleinigkeit, jedes Anliegen landeten bei ihm und er half den Menschen, so gut er nur konnte, und es war in fast allen Fällen immer goldrichtig, was er tat. Wenn er mal nicht weiterwusste oder eine andere Meinung brauchte, wandte er sich an die Imame oder auch uns. Es betraf auch viel zu oft Jugendliche, weshalb wir immer wieder ins Gespräch kamen. Tamer Çoban hat vielen Menschen in Notsituationen, aber auch bei Überforderung im Alltag geholfen. Er füllte vermutlich mehr Formulare für die erste und zweite Generation von „Gastarbeitern“ aus Hamburg aus, als ein Mitarbeiter in einer Arbeitsagentur in seinem ganzen Leben je lesen wird.
Und auch Krisen sah Tamer abi viel früher voraus, als sie uns bewusst wurden. Das Thema der Radikalisierung war für ihn so präsent, dass er früh um Präventionsmöglichkeiten kämpfte – auch in den eigenen Reihen. Und seine liebevolle und hilfsbereite Art sorgte dafür, dass ein Grundvertrauen in die Gemeinschaft vorhanden war. Er war, das sage ich ohne Übertreibung, eine Säule der muslimischen Gemeinde in Hamburg. Wer Rat und Hilfe benötigte, wandte sich an ihn und – außer bei seiner Mittagspause – vertröstete er niemanden. Das brachte ihm oft auch den Zorn der älteren Menschen ein, die 30 Minuten warten mussten, bevor er sich um ihre Formulare kümmerte. Aber auch damit ging er souverän um.
Und wenn es etwas gab, was ihn von vielen anderen Funktionären oder Verbandsmuslimen unterschied, so war es immer seine Menschlichkeit und seine echte Nähe zur Basis. Er hat beispielsweise, anders als viele Ältere aus dem damaligen Vorstand der Moschee, auch regelmäßig die Jugendlichen in ihrem Jugend-Club besucht und ihre Sorgen angehört. Er trank meist seinen Prä-Abend-Tee im Jugendlokal und kam so ins Gespräch mit den jungen Menschen. Er traf sich auch außerhalb seiner Arbeit mit seinen „Kunden“, begleitete sie und förderte einen menschlichen Umgang in und außerhalb der Gemeinde miteinander. Diesen Umgang ließ man auf der Verbandsebene viel zu oft vermissen.
Der Mensch
Tamer abi war ein höflicher, liebevoller und hilfsbereiter Mensch. Er war ein Familienmensch, ein liebevoller Ehemann und Vater, der seine Gefühle auch nicht vor Fremden verbarg. Ich vergesse nie, wie sein Gesicht mit einem breiten Grinsen erfüllt war, wenn er gerade mit seiner Frau am Telefon gesprochen hatte. In einem unserer letzten Gespräche sagte er: „Ich bin stolz auf sie alle. Ich mache mir nur Sorgen, dass ich es ihnen nicht so sage, dass sie es wirklich verstehen.“
Seine Ruhe und vor allem seine Gelassenheit haben mich immer beeindruckt. Während andere ihm das als Schwäche auslegten, habe ich gelernt, wie stark diese Mentalität doch in Wirklichkeit ist. Er sagte immer: „Es gibt Kämpfe, die man führen muss. Und mit Vollidioten führt man keine Kämpfe.“ Und Vollidiot war auch sein liebstes Wort bei verkrampften alteingesessenen Funktionären und dämlichen Entscheidungen. Er sagte es immer mit einem Lächeln, dass man ihm auch dafür – selbst wenn man gemeint war – nicht böse sein konnte.
Als Muslim und als Funktionär fühlte er sich immer der wahren Lehre verbunden und stellte sich auch gegen Entscheidungen, die eben nicht das Beste für die Muslime oder die Gemeinschaft bedeuteten. Oft war er auf verlorenem Posten und er musste damit leben, dass seine Meinung nicht gehört werden wollte. Es gab viele Versuche, ihn hinter den Kulissen abzusägen, doch er ließ sich davon nicht demotivieren und machte seine Arbeit weiterhin gut – und auch wenn viele seinen Wert immer kleinredeten, er war das soziale Herz der Centrum-Moschee. Und wann immer ich einen persönlichen Rat für eine Entscheidung brauchte, habe ich ihn auch konsultiert.
Wenn Tamer abi einen Fehler hatte, dann den, dass er das Rauchen nie hat vollständig aufgeben können. Es war sein und unser Laster, das er bis zum Schluss nicht ablegen konnte. Es war für ihn bei der Arbeit aber auch die einzige Möglichkeit, in einer Raucherecke mal Klartext mit mir und Mesut (seinem vermutlich liebsten Freund in Hamburg) zu reden und auch seine Gedanken auszuführen. Zu keiner Zeit hat Tamer abi mich beleidigt, mit mir so gesprochen, dass ich gekränkt oder lange sauer gewesen wäre. Nein, er hat mir sogar geholfen, mein Ego zur Seite zu legen, als ich es am nötigsten hatte.
In einem unserer letzten Gespräche – wieder mal in der Raucherecke der Centrum-Moschee, fragte er mich ganz offen: „Man hört aktuell vieles über dich, aber das interessiert mich nicht. Sag mir einfach, wie geht’s dir?“ Es war diese entwaffnende Ehrlichkeit. Und auch diese Ehrlichkeit war es, die ihn besonders machte: „Deine Kritik ist berechtigt, aber du bist sehr hart an der Grenze.“ Und trotz mahnender Worte: Für die persönlichen Entscheidungen anderer zeigte Tamer abi immer Respekt, auch wenn er sie falsch fand. Bis zum Schluss kam auch immer wieder die gleiche Aufforderung: „Bring dich doch wieder ein. Abstand ist kein guter Weg.“
Dabei war Tamer abi schon zu diesem Zeitpunkt an einem Scheideweg. Der Tod rückte ihm viel näher und es war klar, dass er irgendwann sterben würde. Als man zu ihm in einem persönlichen Gespräch sagte: „Tja. Dann werden wir wohl bald sterben.“ lachte Tamer abi. Er war gefasst und wusste um seine Situation. Er hatte fast 15 Jahre Zeit, sich auf diesen nahenden Tod vorzubereiten, und bis zuletzt kämpfte er weiter, um zu Leben. Und er fragte sich auch, ob er genug getan habe. Ich sagte ihm einmal: „Du hast viele Dinge erreicht und viele Dinge begründet, die heute fortgeführt werden und weiterhin Bestand haben werden. Die Menschen werden dich schnell vergessen, aber Allah (swt) wird diese guten Taten, die neue gute Taten und weitere gute Taten zur Folge hatten, reichlich belohnen.“
Ich sage das aus vollem Herzen. Ich glaube daran, dass dieser Mensch, trotz seiner Schwächen und trotz seiner Fehler, ins Paradies gehört. Er hat sich mehr um die Gemeinschaft verdient gemacht, als es ein Mensch eigentlich in diesen Zeiten konnte. Und, wie es der Prophet (saw) sagte: „Der Beste unter den Menschen ist derjenige, der seinen Mitmenschen am nützlichsten ist.“ Tamer Çoban hat nach dieser Prämisse gelebt und diese Prämisse anderen als Richtschnur mit auf den Weg gegeben. Er war ein Vorbild und Mentor. Er hat schon länger gefehlt und er wird als Mensch auch weiterhin fehlen.
Möge Allah (swt) mit ihm zufrieden sein und ihm das Paradies schenken. Möge Allah (swt) seiner Familie, insbesondere seiner Frau und seinen Kindern, viel Geduld und Kraft geben.
Inna lillahi wa inna ilayhi radschiuun. (Wir kommen vom Geliebten und zu IHM kehren wir heim.)
Das Totengebet wird am Sonntag, den 28. April 2019, nach dem Mittagsgebet (Dhuhr), in der Hamburger Centrum-Moschee (Böckmannstr. 40, 20099 Hamburg) verrichtet.
Ein lieber Mensch ist von uns gegangen