Huzur - Ententeich in Wilhelmsburg

Huzur*

Welcher Teil von uns ist dem Frieden gewidmet? Und welcher Teil der absoluten Gewalt? Ich hätte tausend Gründe gehabt, in jüngster Zeit auszuziehen und Menschen Schaden zuzufügen. Aber dieser Teich hielt mich davon ab.

Mit der Kippe in der Hand atme ich tief ein. Ich schaue mich um und beobachte die Enten, ich rieche die vom Regen getränkte Luft Wilhelmsburgs. Alles wirkt so verschwommen, wenn ich hier bin. Ich schaue auf den Spielplatz, auf die Anlagen im Hintergrund und auf die vorbeiziehenden Silhouetten der S-Bahn. Und ich verliere mich im Moment, der nicht mehr ist.

Ich schwelge in Erinnerungen, wie Seldas Mutter mich von meinem BMX-Bike mit nur einem Arm heruntergerissen hat. Das Fahrrad fuhr durch das hohe Tempo noch ein ganzes Stück weiter, ehe es umstürzte. Ich hing dafür in der Luft und im Arm von Tante Babacan, die mit mir schimpfte. Ich weiß nicht mal mehr genau, weshalb. Ich hatte wohl irgendetwas angestellt. Und meine Mutter, die neben Tante Babacan saß, schimpfte dann mit. Selda und Hava retteten mich.

Wir sind um diesen Ententeich Fahrrad gefahren, als es noch ein ganz anderer Teich gewesen ist. Es gab eine Zeit, da lag eine Insel in diesem Teich. Unsere Geschwister hatten von vielen verschiedenen Baustellen Styroporplatten und Europaletten „ausgeliehen“. Es wurden Seile besorgt und dann bastelte man mit dem vorhandenen Zeugs „Flöße“.

Wir waren die Geschwister von Piraten, die sich auf Erkundungstour im Entenparkreich gemacht hatten und immer wieder zu kentern drohten. Mit klitschnassen Schuhen und manchmal auch mehr kamen wir zu Hause an, weil wir es gewagt hatten, das Wasser herauszufordern. Auf der kleinen Insel, die wir selbst nie betreten konnten, so erzählten uns die Großen immer, hätte es nur so von Ratteneiern gewimmelt. Wir waren zu jung, um zu verstehen, dass das eine Lüge war. Oder unsere Geschwister hatten nie im Bio-Unterricht aufgepasst.

Es gab Winter, in denen fror der Ententeich zu. Es war so kalt und so lange auch kalt geblieben, dass wir darauf mit unseren Schlitten rutschten, während uns die deutschen Kinder ihre Künste im Eiskunstlauf zeigten. Wir bauten Rampen, damit wir von der einen Seite des Ententeichs auf die andere Seite mit unseren Schlitten schlittern konnten. Es war ein Spaß, den uns niemand gönnen wollte, den wir uns aber einfach erlaubten. Wir waren Aussätzige, denen es am Ende egal war, wer was wie dachte.

Wir waren hier schon länger als alle anderen, die nach uns kamen. Ich fuhr BMX beim Ententeich, als es noch keine Brücke gab, die beide Teile der Miniinsel verband. Wir eiferten unseren Helden nach, die wir nicht einmal damals namentlich kannten. Wir mussten schnell fahren, damit wir die Rampe nutzen und heil auf der anderen Seite des Ententeichs landen konnten. Wir waren Helden. Es gibt aber keine Zeugnisse, keine Bilder über unsere Heldentaten.

Überhaupt war das hier unser Königreich. Wir haben hier immer gespielt. Selda, Mehmet, Hava und ich. Hin und wieder war eine von den zwei Dileks dabei. Und wenn auf dem Bolzplatz gespielt werden sollte, dann waren wir auch zur Stelle und versenkten die Bälle im Tor. Wir waren Freunde und bekannt in dieser Ausländerstraße. Wir besuchten alle die gleiche Schule – mit den gleichen Unkenntnissen der deutschen Sprache, mit der gleichen Abweisung unseres Seins.

Aber es störte uns nicht. Wir hatten immer nur Angst, im Sumpf dieses Parks zu versinken, statt im Sumpf des Rassismus unserer Zeit. Manchmal hatten wir das Gefühl, wenn der Boden unter uns aufgeweicht war, zu versickern wie im Treibsand. Wir erkundeten alles um uns herum und uns gefiel, was wir fanden. Wir waren Freunde und auch wenn wir stritten, wir wussten, wir müssen miteinander auskommen. Wir hatten erstmal nur uns. Und dann diesen Ententeich.

Ich weiß nicht, ob die anderen überhaupt noch hierherkommen. Ich bin gerne hier, wenn mein Weg mich wieder hierher verschlägt. Manchmal stehe ich einfach am Rand und halte den Moment fest. Manchmal setze ich mich sogar auf eine Bank und höre den Geräuschen zu. Es beruhigt mich jedes Mal. Meine Wut auf Gott und die Welt schwindet, wenn ich hier bin. Ich vergesse meine Sorgen und denke an die schöne Zeit.

Aber ich kann nicht verbergen, dass eine gewisse Trauer mein Herz erfasst. Ich wäre gerne noch einmal hier, als alles noch so unkompliziert war und wir alle zusammen hier gespielt haben. Hier finde ich schließlich einen Hauch von „Huzur“, der nicht im Jetzt liegt, sondern in einer Vergangenheit, über die es keine Aufzeichnungen gibt.


*Huzur: Frieden

Das Wort „Huzur“ ist eines der am häufigsten verwendeten Wörter in der türkischen Sprache. „Huzur“ ist aus der arabischen Sprache in die türkische Sprache übergegangen. Laut türkischem Sprachverband (TDK) hat das Wort „Huzur“ folgende Bedeutungen:

  • Frieden
  • Ruhe
  • Seelenfrieden
  • Komfort
  • Zufriedenheit
  • Die Vorderseite, Seite, Boden, Stockwerk, Boden, Hang eines Objekts oder eines Ortes
  • An einem bestimmten Ort zu sein
  • Der Status eines Sultans

Akif Şahin

Akif Şahin aus Hamburg. Arbeite als SEO-Manager für eine der größten Bildungs-Gruppen in Europa. Als Muslim interessiert mich die Geschichte und Kultur des vorderen Orients. Auf diesem Blog gibt es Einsichten, Aussichten und Islamisches.

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