Vor ein paar Wochen habe ich gemeinsam mit Freunden einen Grillabend gehabt. Wir sind ein bunter Haufen. Unter uns verzichten wir auf den Einstieg in zu viel politische Themen, weil wir unterschiedlicher kaum sein könnten. Wir sind Akademiker, Arbeiter, Angestellte. Wir sind Kurden und Türken. Wir sind CHP, HDP, SP und AKP-Wähler. Was uns eint, ist unsere Migrations-Geschichte und unsere Markierung als „Türken“ oder „Almanci“.
Natürlich haben wir dann doch viel über die Wahlen gesprochen. Unter uns war auch ein „Bruder“, der als Wahlhelfer beim Konsulat geholfen hat. Und wir diskutieren zivilisiert über die Zukunft, wie es sich gehört, ohne einander zu kränken. An diesem Abend habe ich noch etwas gezweifelt, ob es Erdoğan wirklich schaffen kann. Meine Schätzungen gingen schon seit Wochen des Wahlkampfes davon aus, dass es knapp werden könnte.
Tradition
Am Ende ist türkische Politik auch sehr mit Tradition verbunden. Erdoğan kam bei mir auf 46 bis 49 %. Wenn es richtig gut läuft sogar auf 52 %. Aber da war noch Muharrem Ince im Rennen. Kılıçdaroğlu bei etwas über 45 %. Der Rest auf Oğan und İnce. Am Ende lag ich wieder mal nicht so weit vom tatsächlichen Ergebnis entfernt. Den Ausschlag bei solchen Wahlen geben immer die Unentschlossenen, die in der Türkei bei 10 – 15 % liegen. Alles andere lässt sich immer etwas berechnen und vorhersagen.
Die letzten Umfragen sahen immer Kılıçdaroğlu vorn. Eine Ausnahme war dabei jedoch KONDA, die Agentur, die meistens hervorragende Umfragen in der Vergangenheit machte. Sie kamen dem Ergebnis aus meiner Sicht auch am nächsten, obwohl die Umfrage bereits im März stattfand. Nun sind Prognosen und Umfragen nicht immer verlässlich. Das zeigte sich auch dieses Mal. Erdoğan strafte alle Lügen, die ihn schon abgeschrieben hatten. Er konnte sich dabei wie immer auf seinen Instinkt, und die Art wie die Menschen in der Türkei ticken, verlassen.
Rechtsruck bei Türkei-Wahlen
In fast allen Regionen gab es insofern keine Überraschungen. Dort, wo die AKP eine Hochburg hatte, verlor sie zwar an Stimmen, aber Erdoğan schaffte es trotzdem auch außerhalb des eigenen Lagers Stimmen zu gewinnen. Seine Büdnis-Partner haben dabei viele Stimmen geliefert, während die Allianz der 6 (oder 7) Kılıçdaroğlu eher im Stich gelassen haben. Dafür hat die Republikanische Volkspartei (CHP) viele eigene Mandate an die Partner abgedrückt und stellt somit auch deutlich weniger Abgeordnete als geplant.
Was wir aber bei der Wahl auch gesehen haben, ist ein deutlicher Rechtsruck in der gesamten Türkei. Während IYI Parti und die rechtsextreme MHP deutlich bei 10 % der Stimmen lagen, haben selbst Splitterparteien wie die BBP (1 %) oder der faschistischen Zafer Partisi (2 %) „gute“ Ergebnisse eingefahren. Auch die Islamisten der Yeniden Refah Partisi (2,8 %) oder der Saadet Partisi (10 Abgeordnete, Beteiligung über CHP-Listen) sind im neuen Parlament vertreten.
Auch das Abschneiden von Sinan Oğan (5,1 %) lässt sich darauf zurückführen. Das ATA-Wahlbündnis ist mit der faschistischen Zafer Partisi deutlich unter 2,5 % geblieben, während der Kandidat dafür fast das Doppelte an Stimmen erhalten hat. Hier haben die Wähler gezeigt, dass es ihnen egal ist, Hauptsache keiner von beiden Kandidaten der Hauptgruppen gewinnt. Oğan kann sich jetzt wie ein Königsmacher aufspielen, dabei wäre Erdoğan noch nicht mal auf seine Stimmen angewiesen, um zu gewinnen. Es reicht, wenn ein Teil der Wähler von Oğan erst gar nicht an die Wahlurnen gehen.
zweite Wahlrunde
Und da sind wir auch schon beim Thema. Die zweite Runde der Präsidentschaftswahl dürfte Erdoğan locker für sich entscheiden. Seine Wähler sind mobilisierbar, während sich bei der Opposition langsam ein Gefühl von Resignation breit macht. Kılıçdaroğlu muss jetzt schnell wieder versuchen anzugreifen, allerdings ist das Parlament bereits verloren und hier könnte sich eine neue Baustelle auftun. Denn die IYI-Partei könnte nach ihrem schlechten Abschneiden aus dem Wahlbündnis ausscheren.
Eine Koalition mit der AKP und MHP ist möglich, da sind sich viele Kommentatoren in der Türkei einig. Parteivorsitzende Akşener hatte das Wahlbündnis ja bereits verlassen, weil sie mit Kılıçdaroğlu als Kandidaten nicht einverstanden war. Jetzt gibt es Diskussionen über ihre Führungsansprüche. Aber selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Kandidat doch noch in der zweiten Runde gewinnt, ist es ungewiss, wie lange Kılıçdaroğlu im Amt bleiben könnte.
Denn das Parlament würde den Präsidenten blockieren. Jetzt sieht es wieder anders aus, weil Erdoğan mit seinem Wahlbündnis eine solide Mehrheit hat und weiter regieren könnte. Gleichzeitig ist auch dem türkischen Präsidenten immer stärker bewusst, dass es kein weiter so geben kann. Kılıçdaroğlu hat Erdoğan einen Schrecken mit dem Wahlkampf bereitet. Die autokratischen Züge dürften daher in eine Art Soft Power mit dem Ziel einer neuen politischen Strategie münden. Anderenfalls könnte selbst die Regierungskoalition nach nur einem Jahr zerbrechen.
Große Herausforderungen
Eine starke Wirtschaftskrise und geopolitische Herausforderungen um Energieunabhängigkeit, Krieg und Terror stellen Erdoğan weiterhin auf die Probe. Das Erdbeben hingegen scheint bei den Betroffenen kaum Spuren hinterlassen zu haben. In fast allen Regionen (außer Diyarbakir, aber auch dort ist es Tradition) wurde Erdoğan deutlich stark gewählt. Anders als in vielen anderen Regionen ist das hier nicht garantiert gewesen. Stimmverluste für die AKP in diesen Regionen zeigen es, aber man traut Kılıçdaroğlu eben nicht an, dass er die Probleme des Landes lösen kann.
Insofern hat man erneut zu viel von den Wahlen erwartet. Die Bürokraten regieren wieder das Land und die Wähler lassen sich in ihrer Sicherheit nicht beirren. Die Unentschlossenen hat es weiter zu Erdoğan getrieben, während Kılıçdaroğlu vor allem die Stimmen der Jugend auf sich vereinen konnte. Dies könnte später einmal entscheidend sein. Bei den nächsten regulären Wahlen treten beide Kandidaten nicht mehr an. Dann könnte jemand aus der zweiten Reihe der Opposition wirklich gewinnen.
Doch wie ist das mit Blick von Deutschland aus zu bewerten? Aus meiner Sicht: gar nicht. Es ist egal, ob nun 60 % der türkischen Wählerinnen aus Deutschland Erdoğan gewählt haben. Das spielt weiterhin keine Rolle und hat nichts mit organisiertem Islamismus, Faschismus oder sonst etwas zu tun. Die Menschen haben andere Bedürfnisse und fühlen sich dem türkischen Präsidenten weiterhin verbunden. Daher verwundern solche Ergebnisse nicht, auch wenn einige „Moscheegemeinden“ da bei der Wählermobilisierung geholfen haben.
Deutsch-Türken
Selbst in Berlin, wo die größte Exil-Gemeinde aus Dissidenten und Auswanderern mittlerweile lebt, hat Erdoğan 50 % geholt. Es bleibt dem deutschen Feuilleton weiterhin verschlossen, dass die Menschen hierzulande, anders gepolt sind, als sie es sich wünschten. Erklärversuche bringen auch nichts, weil man nicht mal selbst erklären kann, warum hierzulande bestimmte Personen und Parteien gewählt werden. Ansätze verlaufen im Sande. Politische Bildung findet ja nicht mal in anderen Bereichen statt, wie soll das im Bereich „Türkischer Nationalismus“ gehen?
Außerdem gibt es einen starken Pragmatismus. Auslandstürken haben viel von Erdoğan und seiner Politik Anfang der 2000er Jahre bis hin in die 2015er Jahre profitiert. Sie fühlen sich durch den Staatspräsidenten weltweit geschätzt und geachtet. Das gibt ihnen einen gewissen Stolz. Gleichzeitig muss man hierzulande weiterhin als Türke ein Dasein fristen, das oft von Ressentiments und Rassismus geprägt ist. Das prägt, auch für eine solche Wahl.
Und auch folgende Illusion muss man nehmen: Unter Kılıçdaroğlu wäre die Türkei keine bessere geworden. Am Ende ist die Türkei eine laizistische Republik, die viele Abhängigkeiten und Gleichgewichte in der Region und außerhalb beachten muss. Kılıçdaroğlu hat mit seiner angekündigten Politik eher dafür gesorgt, dass sich die einem neuen Kandidaten zugeneigten Menschen eher abgewendet haben.
Keine glaubwürdige Distanzierung von Terror
Versprechen waren teilweise utopisch, teilweise schon umgesetzt und teilweise sogar in Planung durch Erdoğan. Sein Rassismus gegenüber Syrern war stärker ausgeprägt, als es viele es wahrhaben wollten. Es hätte eine neue Flüchtlingswelle nach Deutschland geben können. Ebenso wären die Finanzmärkte deutlich schneller kollabiert, als man es wahrhaben wollte.
Und das war vielleicht das Problem. Der ältere Onkel Kılıçdaroğlu hat eine Vision einer liberaleren Türkei versprochen, was nicht mehr geht. Die Türkei kann vielleicht noch im Ton liberal wirken, aber eine echte Demokratie wird sie nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr in diesem Jahrzehnt. Die Ausrichtung auf einen starken Mann im Staat ist jedenfalls von den Wählern gewollt. Das zeigen auch die Ergebnisse der Parlamentswahl. Es gibt keine Mehrheit für die Abschaffung des Präsidialsystems.
Erdoğan scheint genau diese Gedanken zu vereinen. Und im Wahlkampf hat er sich auch klar gegen Terrorismus (PKK, PYD, FETÖ) gestellt. Das ist dem Kandidaten am Ende nicht gelungen. Er wollte vorwiegend kurdische Stimmen nicht vergraulen. Diese hat aber Erdoğan dann mehrheitlich erhalten (sieht man von Diyarbakir ab). Auch Energiesicherheit (Strom, Akkuyu) und militärische Stärke waren Punkte. Wirtschaft, Arbeitslosigkeit und Co. sind natürlich wichtig, aber den meisten Menschen in der Türkei geht es immer noch zu gut. Das wird sich vermutlich sogar wieder so entwickeln, dass es ihnen noch besser geht.
Erdoğans Endgegner ist er selbst
Am Ende verkörperte Erdoğan doch mehr den Wunsch der türkischen Bevölkerung als Kılıçdaroğlu. Deshalb wird er auch den zweiten Wahlgang gewinnen. Kılıçdaroğlu dürfte danach zurücktreten und die nächste Regierung wird weiter nach rechts rutschen. Ein Umbau des Kabinetts ist bereits vor der Wahl angekündigt worden.
Es wird auch bitter nötig sein, wenn man die gespaltene Republik wirklich vereinen möchte. Erdoğans Endkampf wird gegen sich selbst sein. Anders als sein Vorbild Sultan Vahdettin, muss Erdoğan nicht mehr damit rechnen, dass man ihn absetzen wird. Nur er kann jetzt entscheiden, wie er abtritt und wie sich die Republik an ihn erinnern wird. Dafür muss er liefern. Ein weiter so, kann es nicht geben.
Türkei-Wahlen: Gedanken und Einschätzungen