Anthropology im The English Theatre of Hamburg

Als ich in der siebten Klasse des Lessing-Gymnasiums war, hat uns Herr Müller ins English Theatre in Hamburg mitgenommen. Der Ausflug war mein erster Besuch in einem Theater. Als Schulklasse wurden wir natürlich ermahnt, uns zu benehmen und darauf zu achten, dass wir die „viel Geld zahlenden Kunden“ nicht stören. Verstanden habe ich von dem Stück, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, nichts. Als Schüler war Listening Comprehension nie meine Stärke gewesen.

Viele Jahre später machten wir mit Frau Warncke einen Ausflug ins Thalia-Theater. Wir hatten gerade „Romeo und Julia“ als Lektüre im Unterricht und diese schrullige alte Frau wollte, dass wir Shakespeare lieben und verstehen. Was mir im Gedächtnis blieb, ist nicht die Balkonszene, an die sich vermeintlich jedermann erinnert. Mir blieb im Gedächtnis, wie schön der Schwertkampf inszeniert war. Frau Warncke aber hatte mich fürs Theater begeistert. Es folgten viele weitere Besuche, bis es aufhörte.

The English Theatre of Hamburg

Wie sich Theater anfühlen sollte

Mit der Zeit verblassen die Erinnerungen. Auch Dinge, die wir gerne gemacht haben, ändern sich. Also vergisst man, wie es eigentlich ist, in einem Theater zu sitzen und den Künstlern bei ihrer Arbeit zuzuschauen. Man vergisst, wie ein Theater riecht, wie die Menschen applaudieren und den Darstellern Respekt zollen. Die Mimik, die Gestik, die Dialoge und vor allem das Bühnenbild beherrschen unsere Gedanken und Eindrücke. Wir sind den Aufführungen für eine Weile als Gefangene gebunden.

So jedenfalls sollte sich Theater anfühlen. Es sollte uns mitnehmen und aus dem Alltag und Leben entreißen und uns dahin bringen, wo das Stück spielt. Dort, wo wir Beobachter sind und zu schätzen wissen, Zeuge dieser Inszenierung sein zu dürfen. Uns sollte es von den Socken hauen, wie die Darsteller ihre Gefühle so echt vortragen, dass wir mit ihnen leiden und uns mit ihnen freuen. Theater sollte eine Erfahrung sein, die uns Kino oder der heimische Fernsehraum nicht bieten können. Und gleichzeitig sollte jede Aufführung etwas Besonderes sein, weil es ein Unikat ist.

Ich habe mir – auch deshalb – vor ein paar Tagen wieder Abundo* installiert und ein Monatsabo abgeschlossen. Ich liebe das Prinzip einer Kulturflatrate. Gerade die breite Auswahl an Möglichkeiten kann manchmal erdrückend sein. Es ist nicht für jedermann geeignet, aber für mich ist es optimal, weil ich wieder aus dem Haus kommen und meine Komfortzone verlassen kann. Und siehe da, ich entdeckte vor ein paar Tagen Werbung für ein englischsprachiges Stück im The English Theatre of Hamburg*.

Anthropology

Anthropology heißt das Werk von Lauren Gunderson und behandelt ein zeitgenössisches Thema. Es ist ein AI-Thriller, der die menschlichen und nicht-menschlichen Abgründe unserer Zeit erforscht und beleuchtet. Die Story ist einfach gestrickt: Merril kommt über das plötzliche Verschwinden ihrer Schwester Angie nicht hinweg und kreiert mit den Erinnerungen und Informationen über ihre Schwester einen Chatbot. Alle halten das für eine wahnsinnige Idee. Der Chatbot impliziert jedoch, dass er seinen eigenen Fall lösen kann.

Es folgt eine spannende Reise auf der Suche nach Wahrheit und höchst philosophische Fragen über Menschlichkeit, Digitalisierung und Verlust der Hoheit über die eigene digitale Souveränität und Identität. Anthropology ist zeitgemäß aufgebaut und bringt ethische und philosophische Fragen zu AI an die Zuschauer heran. Es ist kurzweilig, spannend und höchst mitreißend.

Carolyn Maitland – großartig und sehenswert!

Hauptdarstellerin und gefeierte Künstlerin Carolyn Maitland (Merril), die aufgrund des Stückes in Hamburg gastiert, verleiht dem gesamten Stück eine besonders packende und gefühlvolle Note. Anthropology lebt davon, dass die britische Schauspielerin das Stück begleitet und ihre Rolle als fürsorgliche Schwester emotionsgeladen und mit großem Antrieb spielt.

Die Dialoge sind zeitgemäß, inklusive einer guten Portion Flüche und Schimpftiraden, was uns auch ins Leben ruft, dass Theater im Grunde alles darf, was heutzutage oft eher verpönt wird. Es war ein schönes Erlebnis und eine Wiederkehr in dieses altehrwürdige Theater, das erst 1976 gestartet ist und als Projekt versucht, uns englische Stücke mit meisterhaften Darstellern aus London näherzubringen.

Anthropology hat mich sehr mitgerissen und begeistert. Vielleicht ist es ja ein Hinweis an alle, die sich für Theater schon immer begeistern wollten und ihre Englisch-Kenntnisse auch ein wenig auf die Probe stellen wollen. Ich kann es nur sehr empfehlen. Das Stück wird noch bis zum 5. Juli 2025 im The English Theatre of Hamburg aufgeführt. Tickets gibt es im regulären Verkauf ab 29 €.

Link*: https://eth-hamburg.de/2024/05/22/anthropology/

Für alle mit * markierten Hinweise gilt: unbezahlte Anzeige/Werbung

Akif Şahin

Akif Şahin aus Hamburg. Arbeite als SEO-Manager für eine der größten Bildungs-Gruppen in Europa. Als Muslim interessiert mich die Geschichte und Kultur des vorderen Orients. Auf diesem Blog gibt es Einsichten, Aussichten und Islamisches.

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