Gustave Le Bon - Psychologie der Massen

Der moderne Mensch verfällt der Gleichgültigkeit – Eine Analyse von „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon

In einer Zeit, in der kollektive Empörung und Massenbewegungen das öffentliche Leben oft dominieren, lohnt sich ein Blick auf Gustave Le Bons Klassiker Psychologie der Massen. Dieses Werk aus dem Jahr 1895 offenbart faszinierende, wenn auch erschreckende Einsichten in das Verhalten und die Psychologie der Masse. Viele seiner Beobachtungen erscheinen heute aktueller denn je und zeigen uns, dass Le Bon uns vielleicht schon damals vor Entwicklungen gewarnt hat, die wir heute in unserer Gesellschaft spüren – und denen wir weitgehend gleichgültig gegenüberstehen.

Der schleichende Verfall zur Gleichgültigkeit

Le Bon beschreibt eine interessante Beobachtung: „Heute verliert jede Meinung durch Erörterung und Zergliederung ihren Nimbus. Ihre Stützpunkte werden schnell unsicher und es bleiben nur wenige Ideen übrig, die uns zu leidenschaftlicher Parteinahme bewegen könnten. Der moderne Mensch verfällt immer mehr der Gleichgültigkeit.“ (S. 142). Dieser Satz trifft den Kern dessen, was sich heute in der Gesellschaft zunehmend zeigt: Das ständige Hinterfragen, Diskutieren und Analysieren hat dazu geführt, dass viele Menschen keinen klaren Überzeugungen mehr folgen.

Eine Art Gleichgültigkeit hat sich eingeschlichen, ein Desinteresse an Idealen, das die Mehrheit der Menschen von leidenschaftlicher Parteinahme abhält. Diese Gleichgültigkeit, die Le Bon beschreibt, zeigt sich in vielen modernen Gesellschaften und könnte gar als Zeichen einer gewissen Dekadenz verstanden werden – ein Zustand, vor dem Le Bon uns bereits vor über hundert Jahren gewarnt hat. Eine Gleichgültigkeit, die damals wie heute Gesellschaften und die Welt vor neue Probleme stellt.

Die Entstehung eines kollektiven Bewusstseins

Le Bon zeigt auf, wie Menschen in der Masse ihre Individualität verlieren. Sobald der Einzelne in die Gruppe integriert ist, wird er impulsiver und emotionaler, getrieben von Instinkten statt von Vernunft. Er nennt dies den „Verlust der Individualität“ – eine Dynamik, die dem Menschen eine Art primitive Natur verleiht, die ihn empfänglich für einfache Botschaften und charismatische Führer macht. In der Masse entwickelt sich ein kollektives Bewusstsein, das auf emotionaler Übernahme basiert und durch gemeinsame Ziele und Symbole gelenkt wird.

Wen wundert es also, wenn damals wie heute Rattenfänger mit Populismus und Lügen so viele Menschen um sich scharen konnten und können? Bis heute beklagen wir, dass die Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst genommen werden. Es hat sich kaum etwas an dieser Einschätzung der Gesamtsituation verändert.

Legenden beeindrucken mehr als die wahren Helden

Eine der faszinierendsten Thesen Le Bons ist die Macht der Legenden. „Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Fantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um.“ (S. 52), schreibt er. Die Menschen schaffen immer wieder neue Mythen, die an ihre jeweiligen Hoffnungen und Wünsche angepasst sind, während die komplexen, oft unbequemen Wahrheiten hinter den echten Helden in den Hintergrund treten. So wird aus dem „grausamen Jehova der Bibel“ ein „Gott der Liebe“ und der Buddha, den die Chinesen verehren, unterscheidet sich grundlegend von dem, der in Indien angebetet wird.

Für Le Bon sind es die idealisierten, vereinfachten Legenden, die die Massen bewegen – nicht die historischen oder tiefgründigen Wahrheiten. Dieser Gedanke findet sich auch in der heutigen Informationskultur wieder, in der Legenden und gekünstelte Narrative oft überzeugender wirken als die nüchterne Realität. Storytelling ist in, während Fakten aufzuzählen niemanden tangiert. Die Menschen suchen nicht unbedingt nach der Wahrheit, sondern nach Geschichten und Bildern, die ihre Fantasie ansprechen und ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen.

Die Macht der Symbolik: Hartz IV wird zu „Bürgergeld“

Le Bon geht auch darauf ein, wie Politiker und Staatsmänner die Macht von Symbolen und Namen einsetzen, um die Massen zu beeinflussen. „Eine der wichtigsten Aufgaben der Staatsmänner besteht also darin, Dinge, die die Massen unter ihren alten Bezeichnungen verabschieden, mit volkstümlichen oder wenigstens bedeutungslosen Namen zu taufen.“ (S. 103). Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist die Umbenennung von „Hartz IV“ in „Bürgergeld“.

Trotz der Namensänderung haben sich die Leistungen kaum verändert, und die „Sozialhilfe“ oder „Stütze“ bleibt für viele, die arbeiten gehen, nach wie vor ein Reizthema. Die Umbenennung zeigt jedoch, wie politische Führer versuchen, durch sprachliche Anpassungen Einfluss zu nehmen und gesellschaftliche Reaktionen zu steuern. Für die Massen zählen die Emotionen, die ein Begriff wie „Bürgergeld“ im Vergleich zu „Hartz IV“ auslösen soll – eine typische Anwendung der Theorie Le Bons, dass das Symbol oft mächtiger ist als der eigentliche Inhalt.

Untergang der Klugen und die Macht der Impulsiven

In Le Bons Sichtweise haben es die Klugen in der Masse schwer. „In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht. An seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.“ (S. 52). Die Masse verleiht jenen eine Stimme, die im Alltag vielleicht wenig zu sagen haben.

Dadurch entstehen Gruppen, in denen die klügsten Köpfe untergehen, während lautere, impulsivere Stimmen die Oberhand gewinnen. Diese Dynamik lässt weniger Raum für Reflexion und führt dazu, dass Emotionen und Instinkte die Richtung vorgeben. Der kluge Einzelne geht in der Masse unter, während die lautstarken und weniger reflektierten Stimmen die Richtung bestimmen.

Titel und Positionen: Der Einfluss des Scheins

Le Bon merkt an, wie die bloße Tatsache, dass jemand eine bestimmte Stellung einnimmt oder einen Titel besitzt, ihm einen „Glorienschein des Einflusses“ verleiht. „Der erworbene oder künstlich hinzunehmende Ruhm ist am weitesten verbreitet. Die bloße Tatsache, dass jemand eine gewisse Stellung einnimmt, ein gewisses Vermögen besitzt, gewisse Titel hat, bildet einen Glorienschein des Einflusses, so gering auch sein persönlicher Wert sein mag.“ (S. 123).

Dies trifft heute besonders auf Titel wie „Doktor“ oder „Professor“ zu, denen oft mehr Bedeutung beigemessen wird als echte Intelligenz oder Fähigkeit. Auch im öffentlichen Leben erleben wir diese „Titelhörigkeit“. Die Realität zeigt jedoch, dass Titel und Positionen keine Garantie für Klugheit oder Urteilsvermögen sind – Beispiele gibt es viele, ob im wissenschaftlichen Bereich oder unter muslimischen Funktionären, die trotz hoher Ämter oft wenig Sachverständnis zeigen. Le Bons Worte sind ein treffender Hinweis darauf, wie oft Schein und Titel über Substanz gestellt werden.

Gefühle statt Logik: Warum die Massen auf Emotionen hören

Eine weitere scharfsinnige Beobachtung Le Bons betrifft die Tatsache, dass logische Argumente bei Massen wenig bewirken: „Wir haben bereits festgestellt, dass die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. Daher wenden sich auch die Redner, die den Eindruck auf sie zu machen verstehen, an ihr Gefühl und niemals an ihre Vernunft. Die Gesetze der Logik haben keinen Einfluss auf sie.“ (S. 108). Diese Beschreibung trifft auf viele aktuelle Bürgerbewegungen zu, bei denen Fakten und logische Argumente zunehmend in den Hintergrund treten und stattdessen Gefühle und symbolhafte Aussagen dominieren.

Politische Führungspersönlichkeiten, die es nicht schaffen, die Massen emotional zu erreichen, verlieren an Einfluss. Ein Beispiel hierfür ist die aktuelle politische Landschaft in Deutschland: Während Kanzler Scholz mit einer sachlichen, zurückhaltenden Kommunikation auftritt, gelingt es Friedrich Merz durch emotionale und symbolträchtige Botschaften, viele Bürger emotional anzusprechen. Diese Dynamik erklärt, warum Redner, die die Kunst der Emotionalisierung beherrschen, oft mehr Eindruck hinterlassen als nüchterne, sachliche Argumentation – ein Grund, warum populistische Politiker heute oft stark an Zuspruch gewinnen.

Der Zyklus von Glaube und Zweifel: Religiöse Tendenzen in der Gesellschaft

Le Bon beschreibt, wie sich Massen religiös und spirituell in Zyklen bewegen: „In der Religion wenden sie sich in der gleichen Zeit vom Katholizismus zum Atheismus, dann zum Deismus und kehren zu den strengsten Formen des Katholizismus zurück.“ (S. 137). Diese Entwicklung zeigt sich auch heute, etwa in der Türkei, wo eine zunehmende Tendenz zum Deismus sichtbar wird, aber gleichzeitig auch ein verstärkter Rückgriff auf den konservativen Islam.

Dieser Wechsel zwischen liberalem Glauben, Atheismus und einer Rückkehr zu strengen religiösen Normen spiegelt das Schwanken der Massen wider – eine Dynamik, die in säkularen Gesellschaften immer wieder zu beobachten ist. Dieser Trend zeigt sich oft, wenn säkulare und kapitalistische Gesellschaften in einer Art Rückkehr zum Konservativen ein Gleichgewicht suchen und Phasen des Atheismus oder Deismus durch eine stärker ausgeprägte Religiosität ersetzt werden.

Empörung als Folge von unnützen Erkenntnissen

In der heutigen Gesellschaft beobachten wir eine ständige Empörung über unterschiedlichste Themen. Die Frage, die sich stellt, ist, ob diese Empörung immer gerechtfertigt ist. Le Bon bietet hier eine erhellende Perspektive: „Der Erwerb unnützer Erkenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.“ (S. 92). Er argumentiert, dass oft oberflächliche, unvollständige oder unbedeutende Informationen die Grundlage für Empörung bilden.

Heute zeigt sich diese Dynamik besonders in sozialen Medien, wo Halbwissen und verzerrte Fakten weitverbreitet sind und leicht große Empörung hervorrufen können. Für Le Bon basiert kollektive Empörung häufig nicht auf tiefem Wissen, sondern auf der emotionalen Kraft von unnützen Erkenntnissen – Informationen, die oberflächlich sind und mehr Unruhe stiften, als sie zur Bildung beitragen.

Fazit: Ein zeitloses Werk mit tiefem Einblick

Psychologie der Massen von Gustave Le Bon ist ein faszinierendes und erhellendes Buch, das weit mehr ist als nur eine Analyse kollektiven Verhaltens. Es bietet Einblicke, die uns helfen, die Mechanismen der heutigen Gesellschaft besser zu verstehen – von der Macht der Empörung bis zur Manipulation durch einfache Symbole. Le Bons Thesen sind heute relevanter denn je und regen zum Nachdenken über unser eigenes Verhalten und die Dynamiken der modernen Welt an.

Wer verstehen möchte, wie Massen funktionieren und welche Kräfte die öffentliche Meinung lenken, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Ein zeitloses Werk, das sowohl intellektuell herausfordernd als auch äußerst bereichernd ist.

Titel: Psychologie der Massen
Autor: Gustave Le Bon
ISBN: 978-3-86820-234-2
Verlag: Nikol
Amazon-Link*: https://amzn.to/4ftUksj

*Dieser Link führt zum Buchangebot auf Amazon. Sollte das Buch über diesen Link gekauft werden, erhält der Autor dieser Besprechung eine anteilige Werbekostenerstattung.

Gustave Le Bon - Psychologie der Massen

Akif Şahin

Akif Şahin aus Hamburg. Arbeite als SEO-Manager für eine der größten Bildungs-Gruppen in Europa. Als Muslim interessiert mich die Geschichte und Kultur des vorderen Orients. Auf diesem Blog gibt es Einsichten, Aussichten und Islamisches.

weitere Beiträge

Post navigation

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Buchbesprechung – „Gott 2.0 – Grundfragen einer KI der Religion“ von Ahmad Milad Karimi

Buchbesprechung – „Maktub“ von Paulo Coelho: Wege zu einem gottgefälligen und glücklichen Leben

Buchbesprechung: Maradona und das göttliche Spiel — warum das Wesentliche unverfügbar bleibt

Kitap önerisi: Yaşamak