Mehmet Hodscha kam jeden Sommer in den 90er- und 2000er-Jahren nach Hamburg. Er war als Lehrer tätig und hatte ein breites Wissen und half hierzulande bei den “Sommerkursen” einiger Moscheeverbände mit. Er kam unter einem Pseudonym zu uns. Seinen echten Namen habe ich erst fast ein Jahrzehnt später erfahren, als ich ihn in einer neuen Position als Berater für das Bildungsministerium der Türkei wieder getroffen habe.
Er predigte uns immer wieder darüber, dass Muslim:innen nicht faul sein dürfen. Er hielt motivierende Ansprachen und half uns neue Perspektiven auf “moderne” Probleme zu gewinnen. Ich lernte von ihm, wie man “schnell lesen” kann und gleichzeitig lernte er von mir, dass es auch mal gut ist, langsam zu lesen, wenn man etwas genießen möchte. Seine Tests in den Sommerkursen waren immer anspruchsvoll. Elite-Universitäten haben sich um den Mann gerissen und seine Vorträge waren häufig unbezahlbar.
Über den Tellerrand hinaus
Wir bekamen das alles “gratis”. Mehmet Hodscha kam im Flieger und düste nach den Sommerferien häufig wieder ab. Manchmal kam er auch zu den Winterferien oder über den Jahreswechsel. Er wechselte dabei von einer Moschee zur anderen und hielt Vorträge. In allen Fällen freuten sich die Zuhörer:innen. Heute würden wir das, was er damals tat, als “Motivational Speaker” bezeichnen.
Er half mit, eine Elite von jungen Menschen in der Türkei und auch Deutschland auszubilden. Über den Tellerrand hinaus zu denken, sich gesellschaftlich zu engagieren und immer mit dem Vorsatz etwas “Gutes zu tun, um das Wohlgefallen Allahs zu erlangen” waren wichtige Dinge, die er uns gelehrt hat und die auch hängen geblieben sind. Was mir aber besonders hängen geblieben ist, ist sein Anspruch für einen guten Muslim bzw. eine gute Muslima.
Gute Muslim:innen
Kurz zusammengefasst: Gute Muslim:innen kennen keine Hürden. Das Schwierige wird sofort erledigt. Das Unmögliche nimmt nur etwas Zeit in Anspruch. Und vor allem verschieben gute Muslim:innen weder ihre Pflichten noch ihre Aufgaben auf eine andere Zeit. Das gilt sowohl für die religiösen Pflichten und Aufgaben als auch die weltlichen Pflichten und Aufgaben. Und es ist unsere oberste Aufgabe, diese Welt zu einer besseren Welt zu machen. Dafür setzen sich gute Muslim:innen in allen Facetten ihres Daseins ein, für jeden Menschen, unabhängig davon, wer diese sind.
Neben der motivierenden und missionarisch geprägten Ansagen zur Lebensgestaltung gab es aber auch einen Punkt, den er schon damals ausgemacht hat. Wir leben bequem. Wir verschieben gerne Dinge oder, wenn wir dazu in der Lage sind, outsourcen und delegieren wir unsere Aufgaben an fremde Personen. Prokrastination ist die Geißel unserer Zeit und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht selbst im Weg stehen.
Farhad und Schirin
Ich vergesse nie, wie er einen Klassiker der türkischen Diwan-Dichtung und -Lesung so veränderte und uns näher brachte, damit wir das Problem verstehen. Er erzählte uns eine abgespeckte, aber und auf das (aus seiner Sicht) Wesentliche gekürzte Geschichte von Farhad und Schirin. Wer sich vielleicht erinnert, ich habe vor ein paar Jahren diese Anekdote bereits in einem Blogbeitrag erwähnt.
Kurz: Farhad möchte seine liebste Schirin heiraten. In der Erzählung tun sich gewaltige Probleme auf. Ihm wird versprochen, dass er seine Schirin heiraten kann, wenn er von einem hoch gelegenen Berg Wasser bis in die Stadt hinunterbringen kann. Eine schier unlösbare Aufgabe, da die Quelle angezapft und dafür (mit begrenzten Mitteln) der Berg aufgebohrt werden muss. Doch Farhad macht sich an die Aufgabe voller Euphorie und sticht mit seiner Spitzhacke ein erstes Loch in den Berg.
Aller Anfang ist schwer
Und hier ist entscheidend, was er dabei sagt: “Das Meiste ist weg. Das Wenige ist übrig.” Und so wie Mehmet Hodscha das auch so schön erklärt hat: Wer vermeiden möchte, in dieser Krankheit zu verharren, muss anfangen. “Aller Anfang ist schwer”, heißt es in einem Sprichwort und genau dies ist häufig die Lösung, mit der wir uns schwertun, wenn wir prokrastinieren. Wir fangen einfach nicht an. Wir müssen aber anfangen, damit wir diesem Teufelskreis entkommen.
Motivational Speaker haben es natürlich so an sich, dass sie uns nicht die ganze Geschichte erzählen. Farhad schaffte tatsächlich die Aufgabe, wurde seiner Schirin am Ende jedoch betrogen. Er starb, weil man ihm vorgaukelte, Schirin sei gestorben. Sie liebte ihn auch und nahm sich an seinem Todesplatz das Leben. Und diejenigen, die sich ihres Todes schuldig gemacht haben, starben am Ende ebenfalls und düngten das Grab der Liebenden mit ihrem Blut.
Es heißt, Farhad habe damals nicht irgendeinen Fluss aus dem Berg gestampft, sondern den heute als Euphrat bekannten Fluss zur Stadt geführt. Es heißt auch, dass an den Gräbern der Liebenden heute noch zwei Rosen von unterschiedlichen Farben blühen, die einander ergänzen. Dies sei aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Gefühl der Unzulänglichkeit
Denn auch das ist eine Kunst. Prokrastination führt uns nicht zu einem Ende unserer Aufgaben. Es frustriert uns und lässt uns ohne jegliche Lösung dastehen, während wir im Kopf noch haben, eine weitere Aufgabe in Angriff nehmen zu wollen. Es gibt heute zahlreiche und unüberschaubar viele Bücher zum Thema.
Wirklich erforscht ist das Problem, das vermutlich 80 % der Bevölkerung in Deutschland plagt, aber nicht. Doch alle Bücher handeln letztlich nur hierüber: Wie fängt man an. Und ich glaube, da hilft auch das, was Mehmet Hodscha so für uns aufbereitet hat. “Ihr setzt euch hin, sagt Bismillah, und fangt an.” Und dann bleibt nur noch wenig, was einen aufhalten kann.
In diesem Sinne: Vira Bismillah.