Vor ein paar Monaten stand ich vor der Wahl, ob ich noch rausgehe oder den Abend in völliger Langeweile bei meinen Eltern verbringe. Ich entschied mich auf den Dom zu gehen, einfach herauszugehen, den Kopf etwas freizubekommen und Dinge zu tun, die ich sonst nur wenig tun konnte in letzter Zeit. Die erste Regel nach einer Trennung lautet: Tue Dinge, die dir Spaß machen.

Im Kino gab es keinen besonders guten Film, also ging ich auf den Hamburger Winterdom und hoffte wenigstens so etwas Zeit rumzubekommen. Ich habe viel genascht und ein paar Domspiele ausprobiert. Es wurde ein längerer Abend, aber auch nicht allzu spät. Ich verließ den Dom mit ein paar gewonnenen Sachen und wollte dann mit der U-Bahn zur S-Bahn wechseln.

Auf der Haltestelle war ich aus Gewohnheit vorn, merkte aber schnell, dass ich ja ganz nach hinten muss, ehe die passende Bahn kommt. Auf dem Weg nach hinten bemerkte ich diese junge Frau. Sie war vielleicht gerade mal 18 Jahre alt. Sie hatte ein blass weißes Gesicht, blonde Haare und einen Bob als Frisur. Sie hatte sich in einen markanten, dunklen, blauen Schlafsack eingehüllt und zitterte am ganzen Körper. Sie schaute mich beim Vorbeigehen an, so wie ich sie anstarrte. Sie sagte nichts, sah aber einfach nur fertig aus. Ich überlegte, ob ich sie ansprechen soll, ließ es dann aber sein.

Doch die Bahn kam nicht. Es vergingen über 15 Minuten, ehe ich aus Langeweile wieder zurück zur anderen Seite des Bahnsteigs spazieren wollte. Dabei sah ich es. Sie hatte Tränen in den Augen und weinte wie verzweifelt. Die Menschen um uns herum gingen an ihr vorbei. Niemand bemerkte, dass einige Tränen durch die eisige Kälte an ihren Wangen gefroren waren. Die restlichen kullerten wie an einem Eiszapfen an ihren rötlichen Wangen herunter.

Sie hielt es anscheinend auch nicht mehr aus und versuchte aufzustehen. Dabei verlor sie eine Menge Kleingeld, das ihr aus der Tasche fiel. Viele Münzen kullerten direkt zu einem Schlitz und gingen unter. Sie kniete sich auf den eiskalten Boden und versuchte die Münzen, die sie anscheinend mühsam gespart hatte, zusammenzukratzen und zu retten, was noch zu retten war. Sie weinte jetzt umso doller und man sah richtig, wie sie litt. Ich machte einen Schritt auf sie zu und sie zuckte vor Schreck zusammen.

Sie sah dann weinend hoch zu mir. Ich hörte nur ein Wimmern und die Worte: „Ich habe alles verloren.“ Ich konnte das nachempfinden. Ich hatte nicht alles verloren, aber vor mir auf dem Boden lag eine junge Frau, die selbst die Münzen verloren hatte, mit denen sie sich hätte etwas Warmes kaufen können. Ich reichte ihr die Hand, damit sie aufsteht. Dann holte ich meine Brieftasche raus und gab ihr mehrere Scheine in die Hand. Sie schaute mich nur ungläubig an. Ich sagte: „Such dir etwas Warmes zum Schlafen und schau nach vorn.“

Ich hätte das Geld normalerweise gebraucht. Ich war aber in diesem Moment irgendwie nicht in der Laune und Verfassung, an Geld zu denken. Alles um mich herum dachte an Geld. Meine Ex, die Familien, mein Anwalt, meine Freunde und wer weiß noch alles. Sie alle hatten mich gewarnt: Geh mit dem Geld vernünftig um, du wirst es brauchen. Ja. Aber diese Frau brauchte jetzt Geld und vor allem Hoffnung. Ihr ging es sichtlich schlechter als mir. Ich hatte nichts in meinem Leben, wofür ich das Geld in diesem Moment hätte ausgeben können. Es war mir vermutlich deshalb egal.

Ich dachte eher daran, wie gesegnet ich war. Ich hatte – trotz einer miesen Trennung – ein Dach über meinem Kopf, jeden Tag warmes Essen, Gesellschaft mit vielen lieben Menschen um mich herum und eine klare Vorstellung von einer glücklicheren Zukunft. Ich war zwar in diesem Moment tief am Boden und geistig zerstört, aber mir ging es besser als dieser jungen Frau. Sie bedankte sich schließlich und wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Mir war die Situation unangenehm und am Ende ziemlich peinlich. Und zum Glück kam die Bahn. Ich stieg ein und schaute nicht mehr nach ihr.

Sie war aber auch eingestiegen und hatte sich in einer Ecke der S-Bahn eingenistet. So fuhren wir bis nach Wilhelmsburg und sie fuhr auch danach noch weiter. Wir sprachen nicht, blickten aber gelegentlich einander an. Zwei Menschen, zerstört von anderen Menschen. Der Blick nach vorn gerichtet. Als ich ausstieg, versuchte ich wieder nicht hinzuschauen. Sie schrie aber durch die S-Bahn „Danke! Vielen Dank!“

Mir wäre diese Geschichte nicht mehr in den Sinn gekommen, hätte ich vorgestern nicht einen Scheiß-Tag gehabt. Es war sehr frustrierend und die Nachwirkungen sind noch immer nicht vorbei. Ich bin deshalb raus, um mich zu beruhigen und bin durch Harburg und meine alte Hood geschlendert. Es war mitten in der Nacht und unter den Gassen, durch die ich als junger Schüler gewandelt bin, bin ich auf eine Ecke aufmerksam geworden.

Dort lag ein Schlafsack, wo sonst auch mehrere Obdachlose schlafen. Er war dunkelblau und hatte ein sehr merkwürdig bekanntes Muster. Es erinnerte mich an diese junge Frau. Wir waren unter einem Tunnel und einige Obdachlose versuchten sich hier vor der Kälte und dem Regenwetter zu schützen. Das Wetter war nicht so kalt wie damals vor ein paar Monaten. Es war aber sehr windig und nass. Ich ging rüber zu der Gruppe und frage höflich, wem dieser Schlafsack gehöre. Es gab leider keine Antwort.

Ich bin mir sicher, dass es ihr Schlafsack gewesen ist. Ich habe in letzter Zeit vieles versucht zu vergessen, auch diese Frau und ihren Gesichtsausdruck der Verzweiflung. Aber ich konnte es irgendwie nicht. Ich bin dann nach Hause und habe mich langsam ins Bett gelegt. In der Nacht habe ich dann von ihr geträumt. Sie sagte mir im Traum, ihr gehe es gut und ich solle mir keine Sorgen machen. Und ich hoffe, es ist wirklich so. Und mehr als hoffen, vermag ich gerade nicht.

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