Reflexartige Reaktionen, wie aktuell im Fall Gil Ofarim, offenbaren tief sitzende Probleme einer Gesellschaft, die Handlungen auf Basis nicht vollständiger Informationen trifft. Dabei spielt auch unsere eigene Sozialisation und Empathie für mutmaßliche Opfer eine Rolle.

Im Mai 2012 verschwand die 26-jährige Maria Baumer aus Muschenried. Ein Jahr später fanden Pilzsammler die Überreste des Mordopfers in einem Wald im Landkreis Regensburg. Der Fall kam 2019 vor Gericht. In einem aufwändigen Indizienprozess wurde dem damaligen Verlobten und Lebensgefährten Baumers, Herrn F., der Prozess gemacht. Herr F. wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Das Urteil wurde erst vor ein paar Monaten rechtskräftig.

Rückschau: Nach dem Verschwinden von Baumer hat die Sendung Aktenzeichen XY, die hilft Mord- und Vermisstenfälle aufzulösen, auch einen Beitrag gezeigt, in dem die Schwester von Maria Baumer teilnahm, aber auch der damalige Lebensgefährte. Der Mörder saß in der Sendung, zeigte sich besorgt um den Verbleib des Opfers und zündete im Fernsehen sogar eine Kerze in einer Kirche für das Opfer an. Der Täter hatte sich also bestens inszeniert und konnte bis 2019 unbehelligt weitermachen, weil man ihm den Mord nicht nachweisen konnte.

Der Fall mag sehr ungewöhnlich sein, doch ist er symptomatisch für unsere aktuelle Gegenwart. Mit dem Täter hatten die Menschen Mitleid. Durch fehlende Informationen konnte nicht genug rezipiert werden, dass der Mann zu den möglichen Verdächtigen gehört. Stattdessen hat man sich darauf verständigt, einen Mörder mit Rücksicht zu behandeln und ihn trauern zu lassen. Die Gesellschaft funktioniert in diesem Punkt weiterhin so. Man hat Mitleid mit Menschen, die mutmaßlich Opfer sind.

Der Fall Gil Ofarim und Westin Hotels

Auch ohne Mordopfer kann es schnell gehen. Das zeigte mir in den vergangenen Wochen der Fall von Gil Ofarim. Zunächst einmal: Ich kannte Ofarim noch, da nannte er sich nur Gil. Ich stehe nicht auf seine Musik und ich nehme den Mann bei vielen Dingen nicht ernst, weil er für mich nicht authentisch wirkt. Deshalb habe ich nicht reagiert, als Gil Ofarim in einem “herzzerreißenden” Video darüber berichtet hat, dass er antisemitisch in einem Westin Hotel in Leipzig diskriminiert worden sei.

Doch das Thema kochte schnell hoch. In meiner eigenen Bubble, die mehrheitlich aus Muslim:innen besteht, wurde schnell Kritik an der Hotel-Kette geäußert. Einige haben sofort zum Boykott des Hotels aufgerufen. Andere riefen dazu auf, dass man sofort vor dem Hotel demonstrieren soll. Wieder andere erklärten, Deutschland sei gegen jede Form von Antisemitismus und Jüdinnen und Juden müssten sicher in Deutschland leben können.

Für mich war das einfach viel zu viel Getöse in einem Fall, der eben uneindeutig war. Wir hatten nur die Aussage von Ofarim, den ich, wie zuvor besprochen, überhaupt nicht ernst nehmen kann. Schnulzensänger können auch gerne auf die Tränendrüse drücken. Nun kam heraus, die Geschichte hat sich womöglich gar nicht so zugetragen, wie Ofarim es zunächst beschrieben hat. Hinzu kommt, dass die Hotelmitarbeiter:innen wohl auch Anzeige gegen Ofarim gestellt haben. Es deutet vieles darauf hin, dass der Fall komplizierter ist, als angenommen.

Nur wenige haben sich bisher überhaupt zu ihren ersten Stellungnahmen geäußert. Einige haben sich verkrochen und tun so, als hätten sie beim Fall Ofarim gar nicht Stellung genommen. Was mich am meisten betrübt, ist ein Fall, in dem mir ein jüdischer Bekannter vorgeworfen hat, ich würde mich nicht solidarisch gegenüber Antisemitismus zeigen, weil ich nichts dazu geschrieben hätte. In letzter Zeit wird man nicht nur missverstanden, man wird gleich falsch verdächtigt.

Der Fall war von Anfang suspekt. Das hätte man erkennen können, hätte man nicht emotional und mit üblichen, reflexartigen Statements reagiert. Die Menschen brauchen sich nicht mehr empören. Sie sind dauerhaft empört. Es fehlt Maß und Mitte. Und häufig versuchen Akteur:innen sogar vorzuschreiben, wie man sich verhalten und wie man sich beteiligen soll. “Du willst Antisemitismus bekämpfen? Dann musst du das so machen, wie wir dir das sagen!”

Nemi el Hassan

Ähnliches konnte man auch schon vorher beim Fall von Nemi el Hassan beobachten. Die Moderatorin hat am antisemitischen Al Quds Marsch teilgenommen. Hier wurde Solidarität mit Nemi el Hassan gefordert, weil sie Opfer einer rechtsextremen Kampagne sei. Auch hier haben sich Gruppen beliebiger Art und Autor:innen zusammengefunden, die sofort zur Solidarität aufriefen. Auf der anderen Seite stand noch nicht mal fest, worum es überhaupt genau geht.

Ja, man kann mit jungen Jahren an einer antisemitischen Demo teilnehmen und seine Gesinnung nach Jahren wieder ändern. Aber hat sich diese Gesinnung bei el Hassan wirklich verändert? Einträge aus jüngster Zeit in sozialen Netzwerken ließen daran zweifeln. Trotzdem waren solche Einträge für die Solidaritäts-Befürworter kein Beweis für eine mögliche Schwäche ihrer Argumentation, dass el Hassan nicht mehr antisemitisch unterwegs war. Es wurde entschuldigt, dass diese Person womöglich antisemitisches und israelfeindliches Zeug von sich gegeben hat.

Die Solidaritäts-Fanatiker:innen sind dann aber auch zügig abgetaucht, als sie gemerkt haben, dass etwas an der Argumentation nicht stimmt und die Moderatorin und Ärztin problematisches Zeug von sich gegeben haben könnte. Echte Solidarität war das ohnehin nicht. Denn der offene Brief an den WDR kam einem Dolchstoß und unter Druck setzen des Arbeitgebers der Betroffenen gleich. Der WDR hätte in dieser Konstellation gar nicht mehr anders gekonnt, als den Fall zu problematisieren.

Dabei hatte sich der WDR vernünftig gezeigt. Man wollte den Fall untersuchen und mit der Betroffenen das Gespräch suchen. Während alles sich ein wenig zu beruhigen begann, kam eine Horde von superwichtigen Akteur:innen daher, die einen anonymen Brief unterschrieben haben und damit angeblich Solidarität mit der Betroffenen ausdrücken wollten. Das hat eher mehr Öl ins Feuer gegossen und für wirkliche Aufklärung hat es nicht gesorgt. Stattdessen haben wir es mit einer organisierten Verharmlosung von möglichen antisemitischen Tendenzen gehabt. Darauf kann man bewusst verzichten. Man entschuldigt keinen Antisemitismus.

Nein, ich bin nicht solidarisch mit dir, nur weil du Muslim:in bist!

Der Klassiker unter den ganzen Forderungen sind dann solche Floskeln wie: “Du musst solidarisch mit uns sein. Wir sind schließlich deine Brüder (Schwestern, Geschwister).” Diese Erwartung ist immer wieder wie selbstverständlich da. Ich frage mich dann immer, in welcher Parallelwelt diese Menschen leben. Es ist schon richtig, dass man sich eher dazu verpflichtet fühlt, sich solidarisch zu zeigen, wenn die betroffene Person ungefähr dem eigenen Selbstbild entspricht.

Es ist aber falsch. Der Fall Nemi el Hassan, der Fall Gil Ofarim und auch viele andere Fälle zeigen das. Wir dürfen uns nicht blind mit Menschen solidarisieren. Wir benötigen dafür genügend Informationen, sonst laufen wir Gefahr, uns instrumentalisieren zu lassen und womöglich Täter:innen statt Opfern zu helfen. Und die Unterscheidung muss uns immer gelingen können. Wenn also Defizite in der Information vorhanden sind, ist also Vorsicht geboten.

Im Fall Gil Ofarim kannten wir nur seine Sichtweise. Okay, die Westin Betreiber in Leipzig haben es den Menschen auch nicht einfach gemacht, mit ihren merkwürdigen Maßnahmen. Dieses Plakat war etwa völlig daneben. Ofarim ist kein Israeli und die Halbmond-Sichel Geschichte hat was mit Islam zu tun, nicht mit Jüdinnen und Juden.

Doch es hätte vielen klar sein müssen, dass wir nur eine Sichtweise einer möglichen betroffenen Person haben, die eben nicht ausreicht, um vollständig ein Bild zu haben.

Auch im Fall Nemi el Hassan hat man mehr aus einem Bauchgefühl reagiert. Fakten waren da, aber sie wurden eben entweder zugunsten (ungunsten) der betroffenen Person eingeordnet oder einfach übersehen. Nemi el Hassan hat sich in einem SPIEGEL-Interview beispielsweise für ihre Teilnahme an der Al Quds Demonstration entschuldigt. Sich aber auch von bestimmten Milieus und bestimmten Gedanken losgesagt. Ob das als glaubwürdig wahrgenommen werden kann, muss jede:r für sich selbst entscheiden.

Der WDR hat zwar die Moderation zunächst abgelehnt, aber es ist kein endgültiges Ende. Ich bin überzeugt, man wird jetzt genau hinschauen müssen, wie sich das weiter entwickelt und ob es nun nur Lippenbekenntnisse waren, oder doch Ankündigungen und klare Richtung einer Person, die einen Wandel gemacht hat. Ich denke, dass der WDR hier auch weiterhin vernünftig agieren und die Situation ordentlich einschätzen wird.

Manchmal reichen die Informationen

Ein ganz anderer Fall ereignete sich in Kerpen, bei der Bundestagswahl. Eine junge Muslim:in musste Beschwerde einlegen, weil sie an ihrem Grundrecht gehindert wurde, wählen zu gehen. Ihr wurde erzählt, sie dürfe nicht wählen, weil sie Kopftuch trage. Das Gespräch und die unglaublich dumme Haltung der (ehrenamtlichen) Wahlhelfer wurde von der betroffenen Frau aufgezeichnet.

Der Fall schlug nicht so hohe Wellen, er wurde aber sehr ernst genommen. Auch von der Politik wurde der Fall verurteilt. Erst durch Intervention und Ansage des Wahlamtes konnte die Muslimin von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Sie hat sich (und das finde ich heldenhaft) nicht beirren lassen und sich ihr Recht erkämpft. Nun geht es nicht nur um die politische, sondern auch um die juristische Aufarbeitung des Falles. Der Zentralrat der Muslime hat gemeinsam mit der Betroffenen, nach eigenen Angaben, Anzeige erstattet.

Ein richtiger und wichtiger Schritt, wie ich hier bemerken muss. Denn diese Form der Wahlbehinderung ist nicht hinnehmbar und muss unterbunden werden. Da es sich auch vermutlich um eine Straftat gehandelt hat, muss das auch juristisch bearbeitet werden. Sonst fühlen sich womöglich Rassist:innen dazu berufen, weiterhin zu versuchen, Menschen von ihrem Grundrecht abzuhalten.

In diesem Fall haben wir das Gespräch auf Video und es wurde unzählige Male geteilt und hat damit erneut eine wichtige Öffentlichkeit geschafft. Dabei ist wichtig, dass nicht nur die Opferperspektive, sondern auch die Täterperspektive festgehalten wurde. Die Informationslage reicht aus, um sich hier auch solidarisch zu zeigen. Gerade hier ergibt es auch Sinn. Denn die Unsicherheiten überwiegen nicht.

Informations- und Medienkompetenz

Und das ist vielleicht die Kunst, die aus meiner Sicht, häufiger in diesen Wochen fehlt. Die Einordnung der Dinge erfolgt häufiger nach Gefühl, statt nach Kompetenz. Die Bewertung von Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt fällt schwer. Wenn man nicht gerade zu der Querdenker-Bewegung gehört, die alle Informationen aus bestimmten Quellen grundsätzlich ablehnen, hat man dennoch viele Vorurteile gegenüber Urheberschaften.

Dieses Phänomen können wir häufiger beobachten. Klassische Medien genießen längst nicht mehr so viel Vertrauen wie neuere Medien. Heute kann ein Telegram-Kanal oder ein TikTok-Kanal eines Jugendlichen, bei bestimmten Informationen deutlich ernster genommen werden, als ein Bericht in der Tagesschau. Dabei fällt es, vielen Menschen sehr schwer zu unterscheiden, welche Informationen überhaupt richtig sind und welche Quellen überhaupt zuverlässig sind.

Viele Checks im Internet geben dann auch so interessante Tipps. Beispielsweise sechs Hinweise, wie man Quellen und Inhalte prüfen soll. Doch, wenn man nicht gerade als Faktenfinder für die Tagesschau unterwegs ist, hat man im echten Leben kaum Zeit Quellen zu prüfen. Schon gar nicht in der Form, wie man sich das im Präventions-Netzwerk so vorstellt. Vielmehr geht es aus meiner Sicht um Gewohnheiten.

Medienkonsum, Verhaltensmuster und einfach die Klappe halten

Auch beim Medienkonsum gibt es Verhaltensmuster. Wer seine Informationen beispielsweise nur aus bestimmten sozialen Netzwerken bezieht, kann dann häufig gar nicht anders, als sich verstärkende Inhalte zu konsumieren, die nur dem eigenen Weltbild gefallen. Diese sog. Bubble zu durchbrechen, ist im Zeitalter von Algorithmen häufig sehr schwierig. Es bleibt daher die Frage, wie man sich insgesamt verhalten soll.

Und da lautet meine Antwort: Wenn man nicht genügend Informationen hat, sollte man sich mit seiner Meinung zurückhalten. Das lustige ist: Viele Menschen tun genau das im Web. Wenn man in die Kommentarspalten bei Zeitungen und sonstigen Foren schaut, entdeckt man häufig schnell, dass sich dort eigentlich die Menschen zu Wort melden, die sich genau an diese Regel nicht halten.

Ob es uns gefällt oder nicht: Die meisten Menschen im Web bleiben Konsumenten. Sie lesen nur und schreiben nicht. Sie lassen die Kommentare aus und erhalten sich damit auch ihre Lebensqualität. Und vielleicht ist es auch die Form, die uns helfen könnte, über den Blödsinn hinwegzusehen, der neuerdings von angeblichen “Wortführer:innen der postmigrantischen Gesellschaft” geäußert wird.

Zumindest könnten wir davon Abstand nehmen, Solidarität mit allen mutmaßlichen Opfern zu zeigen und damit höchstwahrscheinlich einem Irrtum zu unterliegen.

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