Inhaltsverzeichnis
- Es gibt keine Universalgelehrten mehr
- Unsere Bildungssysteme bilden Spezialist:innen aus
- Dilemma der Expertenschaft
- Verortung in religiösem Kontext vs. fundierte Informationen
- Kontroverse um Impfstoffe als Beispiel für Missinformation
- Soll man sich impfen lassen?
- Religiöse Fragen wurden in den Hintergrund gedrängt
- Es gibt keine einfachen Antworten und doch müssen wir versuchen, die Dinge einfach darzustellen
- Impfungen bieten keinen hundertprozentigen Schutz
- Verunsicherung groß — impfen bleibt eigene Entscheidung
- Warnungen vor Desinformationen
- Alternativen für die unteren Klassenschichten
Alles im Leben kann aus einer religiösen Sicht beantwortet werden. So ist es auch mit dem Thema “Impfung”. Doch aus meiner Sicht hat sich mit der Coronapandemie der Blickwinkel verändert. Denn die Argumentation pro oder contra einer Impfung ist nicht mehr religiös orientiert. Sie versucht anhand von Fakten und „Wahrheiten“ beantwortet zu werden. Über den Verlust von religiöser Autorität und der Informationshoheit.
Es gibt aktuell zwei Themen, zu denen ich als Muslim aus meinem eigenen Umfeld häufig Fragen gestellt bekomme. Das eine Thema ist Bitcoin. Viele junge Muslim:innen wollen wissen, ob es erlaubt (halal) ist, diese digitale Währung als Anlageinstrument zu nutzen. Die Antworten auf diese Thematik sind kontrovers. Religiös betrachtet kann man sowohl zur Antwort erlaubt als auch zur Antwort verboten (haram) gelangen.
Die religiöse Einordnung hängt häufig von der Betrachtung des Themas ab. Zudem gibt es dann Menschen wie mich, die Ökonomie studiert haben, sich mit den Fallstricken von Anlageinstrumenten beschäftigt haben und vielfach ein höheres Wissen über Hintergründe, Funktionsweisen und vor allem die Möglichkeiten solcher digitalen Konstrukte besser auskennen. Das Urteil über Bitcoin ist dann kein religiöses Urteil. Es ist eine Einschätzung zu Dynamiken, Risiken und Chancen.
Es gibt keine Universalgelehrten mehr
Den einzelnen Individuen bleibt dann die Entscheidung vorbehalten, ob sie der religiösen Einschätzung oder doch der eines Ökonomen folgen wollen, der sich mit dem Sachverhalt und der Technik vermutlich zumeist besser auskennt. Dieses Dilemma der Einstufung ist auch ein Dilemma unserer Zeit. In der Frühgeschichte des Islam, bis hin zur Entwicklung in der Endzeit des osmanischen Reiches waren Gelehrt:innen häufig auch Universalist:innen.
Ibni Sina (Avicenna) beispielsweise, der in sunnitischen Kreisen wegen seiner philosophischen Ansichten eher kritisiert wird, war ein ausgezeichneter Arzt, Naturwissenschaftler, Philosoph, hanafitischer Jurist, Mathematiker, Astronom, Politiker und Chemiker. All dies ist in unserer Zeit in der Verkörperung einer Person nur noch selten anzutreffen, auch wenn wir vorgeben, multiple Identitäten zu haben.
Unsere Bildungssysteme bilden Spezialist:innen aus
Im muslimischen Kontext trifft man solche multiplen Expert:innen in einer Person ohnehin nur noch selten. Der Hintergrund ist einfach: Unsere Bildungssysteme wurden über die Jahrhunderte hinweg verändert und langsam vereinheitlicht. Wir bilden heute in allen Teilen der Welt Spezialist:innen aus, die häufig nur ein Fachgebiet haben oder sich in ein paar verwandten Fachgebieten auskennen.
Insofern bleiben muslimische Gelehrt:innen selbst in ihrem Gelehrt-sein nur Fachexpert:innen in bestimmten Teilen der islamischen Lehre. Vielfach sehen wir in diesen Tagen dann auch die Hinweise aus diesem Milieu, man möge bei der Beurteilung von Sachverhalten immer die Expert:innen fragen.
Dilemma der Expertenschaft
Muslimische Faqih (Expert:innen der islamischen Rechtswissenschaften) können heutzutage insofern nicht immer zu einem Rechtsurteil gelangen, ohne sich den Rat von Expert:innen zu holen. Das liegt auch an der Komplexität unseres Seins und unserer Umwelt. Es ist nicht möglich, alles bis ins kleinste Detail im Universum zu verstehen. Man kann dabei nur hoffen, dass die richtigen Expert:innen zu einem Thema zurate gezogen werden.
Wie kompliziert so etwas sein kann, zeigt uns immer wieder auch der Ethikrat in Deutschland. Hier können Mehrheitsmeinungen einen Konsens finden, aber häufig gibt es doch Mindermeinungen, die neben den Mehrheitsmeinungen ebenfalls publiziert und veröffentlicht werden. Kontroverse Themen können nicht einfach und schon gar nicht identisch bewertet werden.
Verortung in religiösem Kontext vs. fundierte Informationen
Das sehen wir auch in der Coronakrise. So gab es von Anfang Bestrebungen im muslimischen Milieu, die Handlungen (wie Lockdowns) während der Coronakrise islamisch zu legitimieren oder zumindest im religiösen Kontext zu verorten. Teilweise wurden dafür auch Überlieferungen vom Propheten Muhammad (saw) bemüht.
Seitdem es die Möglichkeit der Impfungen gibt, hat es dann eine Veränderung gegeben. Dabei wurde die Thematik erörtert, ob Impfungen in Ordnung sind und ob man z. B. sich impfen lassen darf, während man fastet. Gleichzeitig haben religiöse Autoritätsstätten wie die Al-Azhar oder die türkische Religionsbehörde Diyanet verfügt, dass eine Impfung gegen Corona grundsätzlich legitim sei.
Kontroverse um Impfstoffe als Beispiel für Missinformation
In Indonesien sagte das oberste Religionsamt, der Impfstoff sei halal. Auch die Impfhersteller selbst griffen das Thema auf. So erklärte Biontech, sein Impfstoff sei sowohl halal als auch koscher. Eine Reaktion auf Gerüchte, die ihren Ursprung in Großbritannien hatten. Dort wurde zwischendurch behauptet, der Coronaimpfstoff sei nicht halal, weil sich Bestandteile vom Schwein drin befinden würden. Tatsächlich hatte es einige Zeit lang in Großbritannien Impfstoffe gegeben, die als Stabilisatoren tierische Gelatine beinhalteten.
Erst vor ein paar Jahren war man von der Praxis abgerückt. Dass die neuen Impfstoffe teilweise in neuen Verfahren erstellt werden, war da noch nicht einmal thematisiert worden. Nachdem klar war, dass die Verfahren verändert und die Hersteller selbst auf das Thema aufmerksam gemacht haben, verschwand die Behauptung wieder weitestgehend, auch wenn sie immer noch partiell im Web erneut gefunden werden kann.
Soll man sich impfen lassen?
Doch die Frage, die gerade junge Muslim:innen immer wieder stellen, ist: “Soll ich mich impfen lassen?” — Die Frage wirkt zunächst merkwürdig, aber ist das Resultat einer Entkoppelung zwischen religiöser Einordnung und der eigenen Wahl aus medizinischen oder rein vernunftgeleiteten Gründen für einen Impfstoff.
Bei Nachfragen stelle ich immer wieder fest, dass die jungen Menschen häufig falsch informiert sind. Erst kürzlich behauptete ein junger Mann, dass die Coronaimpfung impotent mache. Ein Verwandter habe das nach der Impfung gehabt. Eine junge Muslimin fragte mich, ob es überhaupt sicher sei, was da gespritzt wird, weil es keine Langzeitstudien gäbe. Ein anderer Muslim erklärte, der mRNA-Impfstoff von Moderna oder Biontech verändere die DNA.
Wir sehen hier eine größere Entkoppelung. Es ist unerheblich, ob die Mittel als “halal” eingestuft werden. Die Fragen, die gestellt werden, sind häufig medizinischer Natur und die eigenen Einordnungen junger Menschen basieren häufig auf Gerüchten oder der Medienberichterstattung. Es ist unmöglich in einem Land, in dem es schon vor Corona fast über 30 % Impfgegner bzw. Kritiker gab, zu erwarten, dass die Menschen sich normal und ordentlich informieren könnten.
Religiöse Fragen wurden in den Hintergrund gedrängt
Der Disput, den wir auch in Form von Coronaleugnern und “Querdenkern” sehen, hat nicht haltgemacht und die religiösen Fragen in den Hintergrund gedrängt. Heute suchen Menschen nach Erklärungen und solange diese nicht in einer einfachen und verständlichen Form dargestellt weitergegeben werden, bleibt ein Risiko des Unverständnisses und der Skepsis. Dabei kann ein Imam oder ein Gelehrter in Deutschland häufig gar nicht auf die Fragen antworten, weil ihm die Sachverhalte unbekannt sind.
Nehmen wir das Beispiel der Unfruchtbarkeit. Diese ist tatsächlich ein Thema für die Fachwelt, weil das Spike-Protein, welches sich darum kümmern soll, dass der eigene Körper Antikörper gegen COVID-19 entwickelt, zumindest bei Frauen dem Protein Syncytin-1 etwas ähneln. Syncytin-1 ist zur Bildung des sog. Mutterkuchens (Plazenta) wichtig. Doch die Ähnlichkeit reicht eben laut Medizinern nicht aus, um hier eine Gefahr zu sehen.
Es gibt keine einfachen Antworten und doch müssen wir versuchen, die Dinge einfach darzustellen
So ist beispielsweise auch das Grippe-Virus diesem Protein sehr ähnlich. Trotzdem werden Frauen schwanger, selbst wenn sie die Grippe mehrfach durchlebt haben. Der Körper entwickelt keine Antikörper gegen die weibliche Plazenta. Berichte über Unfruchtbarkeit bei Männern sind ebenfalls an den Haaren herbeigezogen. Hier ist der Sachverhalt sogar noch eindeutiger.
Versuchen Sie aber, dieses Thema einmal ganz einfach zu erklären. Der muslimische Gelehrte wird häufig schon beim Spike-Protein scheitern. Die jungen Menschen werden das nicht verstehen. Einfache Sprache benötigt hier einen stärkeren Einsatz. Nein, eine Impfung macht nicht impotent. Es gibt keine solche Gefahr. Auch für viele weitere Gerüchte gibt es eine klare Antwort: Nein, es stimmt nicht. Viele dieser Fragen wurden bereits beantwortet. So hat selbst die Bundesregierung eine Website mit Antworten auf häufige solcher Fragen erstellt.
Impfungen bieten keinen hundertprozentigen Schutz
Wir sehen aktuell, gerade in einem ganz klar eingrenzbaren sozio-ökonomischen Milieu, eine größere Skepsis gegenüber Impfungen. Ein Freund, der sich über die Vorteile bereits auskannte, fragte mich letztens, ob er sich wirklich impfen lassen soll. Als ich ihm erklärte, welche Einschränkungen seiner Mobilität demnächst bevorstehen könnten (Lockdowns für Ungeimpfte) hat ihn das mehr überzeugt, sich impfen zu lassen als die ganzen gesundheitlichen Vorteile der Impfung.
Fakt ist, dass die Impfung keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Ansteckung geben kann. Die Impfung kann auch nicht verhindern, dass man sich trotzdem mit dem Coronavirus ansteckt. Sie kann aber einen harten Verlauf der Krankheit verhindern und das Infektionsgeschehen insgesamt eindämmen. Das sind die einzigen Vorteile.
Und immer noch wird darüber diskutiert, ob impfen eine gute Sache sei oder nicht. Dazu kommen dann medial aufgebauschte und häufig tendenziös herausgebrachte Meldungen über Personen, die sich trotz Impfung angesteckt haben und daran gestorben sind. Es baut eben kein Vertrauen auf, wenn wir ständig skandalisiert über medizinische Themen berichten, die in der Fachwelt weit weniger kontrovers diskutiert werden.
Verunsicherung groß — impfen bleibt eigene Entscheidung
Die Verunsicherung der Menschen ist groß und deshalb bleibt Impfen eine persönliche und freiwillige Entscheidung. Dass der Staat natürlich ein Interesse daran hat, dass sich ganz viele Menschen impfen, steht außer Frage. Die Frage aber, die gestellt werden sollte ist, warum so viele Menschen aus der Gruppe der Besserverdiener sich eher impfen lassen, als Menschen, die in prekären Jobs arbeiten und zu den schwächeren Gruppen in der Gesellschaft gezählt werden.
Impfen ist ein Privileg. Das ist leider den meisten Menschen in meinem Umfeld weiterhin nicht klar. Sie orientieren sich stattdessen lieber an Verschwörungserzählungen, an Berichten aus ihrem Umfeld, an Erfahrungen von angeblichen Impfopfern, die man häufig nicht einmal ausfindig machen kann. Sie orientieren sich nicht danach, was ihnen ihre Religion sagt. Sie orientieren sich auch nicht an dem, was die Imame erzählen. Die Orientierung beim Impfen ist dem Informationskrieg zum Opfer gefallen.
Warnungen vor Desinformationen
“Fake News” beherrschen damit immer zielstrebiger eine Diskussion, die anfangs — bevor man sich impfen konnte — religiös konnotiert ausgelegt und von vielen Muslim:innen mitgetragen wurde. Doch jetzt ist, impfen etwas Persönliches, für das man sich bewusst entscheiden muss und das man nicht als die gute Lösung in allen Möglichkeiten sieht.
Das liegt an Verbreitungen von Fake-News. Selbst Warnungen vor Accounts, Inhalten und einfach nur falschen Darstellungen helfen nicht weiter. Diese sind schnell weggewischt, weil das Interesse die Warnung überwiegt. Auch dieser Artikel wird mit einer Warnung versehen. Das gehört mittlerweile bei Themen rund um COVID-19 dazu. Es hat unsere Informationsverbreitung und Aufnahme verändert. Wir ignorieren die Warnungen.
Alternativen für die unteren Klassenschichten
Für viele Menschen werden deshalb Angebote geschaffen, damit sich diese doch noch impfen. Die Anreize zum Impfen werden sowohl auf das Milieu ausgerichtet (impfen in Moscheen) als auch auf die finanziellen Möglichkeiten (Tests sollen künftig Geld kosten). Dazu kommen die Einschränkungen für Nichtgeimpfte, wenn es um den Besuch von Restaurants, Kinos oder auch Gottesdiensten geht.
Ich habe aber mittlerweile den Eindruck, dass die religiöse und milieubehaftete Karte gar nicht mehr zieht oder zumindest nur noch einen Bruchteil der Menschen erreicht, die sie eigentlich erreichen könnte. Insofern ist der Glaube an Corona da, auch die Gefahr wird wahrgenommen, bloß der Nutzen und die Frage nach einem echten Schutz werden nicht erkannt. Wie soll es gelingen, solche Menschen zu überzeugen? Ich sehe da kaum Möglichkeiten, wenn man darauf beharrt, dass es keine Impfpflicht geben soll.
Am Ende schrecken Bilder und Geschichten von Corona-Opfern mehr ab, als ständiges Eintrichtern, Impfungen seien gut. Nachdem die Autorität der Religionshoheit verloren ist, haben wir auch den Informationskrieg — zumindest in bestimmten Milieus — verloren. Es wird am Ende Menschenleben kosten, wenn die Impfungen nicht weiter ausgebaut und noch mehr Menschen erreichen. Doch wer trägt jetzt, mitten im Wahlkampf, Verantwortung für ein erkennbares Staatsversagen?