Inhaltsverzeichnis
- Der politische Islam in der MENA-Region hat versagt
- Nationalismus ist am Wiedererstarken
- Ist die Wirkung von islamistischen Gruppierungen wirklich so groß?
- Der Begriff des politischen Islam taugt nicht
- Was können wir Muslim:innen tun?
- Klare Kante gegen Islamismus
- Post-Islamismus ist möglich und aktuell eine schnelle Folge der Entwicklungen
- Fazit zum politischen Islam
Ist der politische Islam unser größtes Problem? In einem früheren Aufsatz habe ich 2016 dargelegt, warum Muslim:innen in Deutschland politisch sein müssen und sich politisch positionieren und engagieren müssen. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass letztlich alles an unserer Religion und unserem Leben politisiert wird und viele Freiheiten gar nicht vorhanden wären, hätten Muslim:innen aufgehört, sich zu artikulieren und Forderungen zu stellen. Das war ihr gutes Recht. Vier Jahre später wird weiter darüber diskutiert, ob das der richtige Weg ist.
Der Wissenschaftler und Begleiter der Deutschen Islam Konferenz I, Levent Tezcan, stellte berechtigterweise in seinem Buch “Das muslimische Subjekt” (erschienen 2012) fest: “Wie Religiosität gelebt und gelehrt wird, ist von zentraler Bedeutung für die moderne Form von Macht.” Und es gehört auch zu dieser Macht, dass wir uns lieber über Kopftücher unterhalten statt über die Teilhabe von Muslim:innen in der Gesellschaft. Heute gilt diese Einschätzung mehr als je zuvor. Denn wieder werden legitime Anliegen von Muslim:innen mit der Behauptung “Der politische Islam ist die größte Gefahr für unsere Gesellschaft” diskreditiert.
Der politische Islam in der MENA-Region hat versagt
Dabei ist der politische Islam in Deutschland eigentlich tot und auch in der MENA-Region sehen wir, dass die Formen des politischen Islam versagen oder versagt haben. In der Türkei ist es nicht gelungen, ein Staatswesen und Modell zu errichten, dass sich an den islamischen Maximen orientiert. Ebenso wenig, wie dies in anderen Ländern wie Ägypten, Marokko, Tunesien, Saudi-Arabien und Co. gelungen ist. Selbst der Iran ist weiterhin sehr weit davon entfernt, seine Doktrin vorherrschend für die eigene Bevölkerung aufzulegen. Aktuell sehen wir, wie weltweit die Modelle und Systeme des politischen Islam zusammenbrechen. Ihre Vertreter treten immer weiter den Rückzug an.
Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Vereinigten Arabischen Emirate nun ein Bündnis mit Israel in der Region suchen und damit eine Kehrtwende vollziehen. Eigentlich wollten die Mitglieder der Arabischen Liga darauf beharren, dass es eine Zwei-Staaten-Lösung im Israel-Palästina-Konflikt gibt. Das ist mit der jüngsten Einigung, unter Vermittlung der USA, so gut wie vom Tisch. Es ist eine Zäsur, weil Menschen wie der Schatten-Emir der VAE und der künftige König von Saudi-Arabien ihre neuen nationalistischen Modelle als Alternativen zu den politischen Islamisten vorstellen und damit erfolgreich andocken. Unterstützung ist ihnen dabei auch vom Westen sicher. Der politische Islam ist schließlich gefürchtet.
Nationalismus ist am Wiedererstarken
Tatsächlich hat sich der Nationalismus in allen Staaten der MENA-Region, einschließlich der Türkei, einen Weg gebahnt. Heute sucht selbst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der einst Nationalismus verteufelte, die Unterstützung durch die rechtsextremistische MHP. Die Töne wurden rauer und die Tendenz zum nationalistischen Extremismus hat zugenommen. Islam und Islamismus rücken bei all den politischen Entwicklungen in den Hintergrund. Gruppierungen wie die Muslimbruderschaft oder ISIS haben — Stand jetzt — keinerlei Bedeutung für die Stabilität und Zukunft einzelner Regionen.
Ähnliches beobachten wir auch in Deutschland — wenngleich aus anderen Gründen. Ein Beispiel ist die salafistische Szene. Hier muss man natürlich unterscheiden, dass es bei dieser Szene ausschließlich um politische Salafisten (unterschiedlichster Ausprägungen) geht. Wie auch der letzte Verfassungsschutzbericht des Bundes bestätigte, fehlt es der Szene an Führungspersonen. Weil die Szene sich so stark aufgespalten hat, sind die Wirkung, wie in den Vorjahren, die auch Einfluss auf die Islam-Debatten hatten, eigentlich verpufft.
Ist die Wirkung von islamistischen Gruppierungen wirklich so groß?
Vereinzelt hört man von einzelnen Akteuren, die aus diesen Kreisen noch aufbegehren, aber grundsätzlich ist nicht so schnell mit einer Rückkehr zu rechnen. Die Lücke wurde dankend von neueren und schnelleren Bewegungen aufgenommen. Beispielsweise haben sich Ableger der panislamischen Bewegung, der Hizb ut Tahrir, in verschiedenen Großstädten breit gemacht und erhalten regen Zulauf. Teilweise gibt es Zentren, in den täglich junge Menschen zum Islam konvertieren. Die Jugendarbeit ist ähnlich wie bei anderen islamischen und islamistischen Bewegungen in Deutschland in den 80er und 90er-Jahren aufgebaut. Die Medienarbeit hingegen so professionell wie bei hochkarätigen Sendeanstalten.
Tatsächlich ist die große Wirkung (sieht man von einzelnen Fällen ab) über einzelne lokale Aktivitäten ausgeblieben. Das heißt allerdings nicht, dass diese Vertreter eines politischen Islam, die letztlich in der Gründung eines Kalifats eine Lösung für alle Probleme sehen, vernachlässigt werden sollten. Die Dynamiken aufgrund der Schwäche des Verbandsislam insgesamt in Deutschland, können rasant Fahrt aufnehmen. Aktuell profitieren diese Gruppen auch von Verschwörungstheorien bezüglich COVID-19 und bauen stark an dem Zugehörigkeitsgefühl von jüngeren Mitgliedern. So wird der Grundstein für verlorene Existenzen gelegt, die am Ende nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Leben für eine Lüge weggeworfen haben werden.
Der Begriff des politischen Islam taugt nicht
Doch all diese Punkte sind, angesichts der Dimension muslimischen Lebens in Deutschland, Randerscheinungen. Die meisten Muslim:innen in Deutschland sind bestens integriert, sie haben keinerlei Bindung zu Islamverbänden oder Islamisten. Ebenso wenig sind diese Muslim:innen organisiert oder sondergleichen. Doch Debatten um den “politischen Islam” überschatten diese Tatsachen. Der politische Islam taugt insgesamt als Feindbild, weil er eben nicht ausführlich definiert ist.
So wird, wenn man sich die Ausführungen von Protagonisten vor Augen führt, eigentlich jedwede muslimisch gelesene Person des “politischen Islam” verdächtig, solange er sich versucht zu integrieren oder sich an Recht und Ordnung hält. Dies ist ein Grund, warum der Begriff des politischen Islam überhaupt nicht taugt. Er ist zu undifferenziert und kann eigentlich — wie es auch von einigen Protagonisten aktuell forciert wird — alle Muslim:innen in dem Begriff umfassen.
Tatsächlich wird wieder einmal nicht nur versucht, legitime Interessen von Muslim:innen zu diskreditieren. Es wird auch versucht, Muslim:innen jegliches politisches Engagement und Bemühungen um Integration zunichtezumachen. Dabei schrecken einige Subjekte nicht einmal davor zurück, Rufmord zu betreiben.
Was können wir Muslim:innen tun?
Doch was können wir dagegen tun? Es ist paradox, aber genau das ist der Punkt: Wir tun schon das Richtige. Wenn Muslim:innen sich heute darum bemühen, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, sich darum bemühen, integriert und als stolze Staatsbürger:innen anerkannt zu sein, wenn sie sich in Beruf und Schule engagieren und letztlich auch politisch aktiv sind, dann haben sie genau das getan, was die Kritiker:innen eigentlich zu verhindern suchen.
Die beste Methode Menschen, die teilweise nicht einmal hier sozialisiert sind, ihren Rassismus und den Machtdiskurs madig zu machen, ist ein noch stärkeres Engagement — entgegen aller Widerstände und Diskreditierungen. Letzten Endes versucht man mit den jüngsten Debatten, die Entwicklung zu stoppen, dass sich Muslim:innen einbringen und auch Verbesserungen fordern. Insofern ist es wichtig, hier nicht nachzulassen.
Klare Kante gegen Islamismus
Zudem muss man auch klare Kante zeigen gegenüber falschen Einstellungen und Richtungen in den wenigen, aber immer noch als wichtige muslimische Institutionen wahrgenommenen, Verbänden und radikalen Gruppen. Eine Distanzierung allein hilft nicht. So ist es wichtig, die Kritik an die Verbände und diese Gruppen ebenso auszuformulieren. Wenn etwas falsch läuft, dann darf das nicht einfach so hingenommen werden.
Bisher läuft dieser Diskurs nur schleppend, weil auch die Mechanismen für innere Kritik in den Verbänden nicht (mehr) funktionieren. Doch früher oder später müssen sich die Verbände öffnen, weil der Nachwuchs fehlt. Das Gleiche gilt auch für die radikalen Gruppen. Schon vor einigen Jahren habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass islamistische Gruppierungen eine post-islamistische Entwicklung einnehmen können.
Post-Islamismus ist möglich und aktuell eine schnelle Folge der Entwicklungen
Dazu hat insbesondere Prof. Dr. Werner Schiffauer sehr interessante Einblicke in “Nach dem Islamismus — eine ethnografische Studie der Milli Görüs” geliefert. Meine These ist, dass radikale Gruppierungen, diese Entwicklungen, die bei der IGMG mehrere Jahrzehnte gedauert haben, in einem schnelleren Tempo durchleben. Mit ein Grund dafür, warum viele salafistische Bewegungen — nach Druck von Behörden und Gesellschaft — heute eher in der Versenkung gelandet sind.
Tatsächlich gibt es auch Gegenbewegungen. Das kann man meiner Meinung nach auch bei der IGMG beobachten. Obgleich die Tendenz zu einer Weiterentwicklung erhalten bleibt, müssen sich die Organisationen und Gruppen letztlich mit den gleichen Phänomenen auseinandersetzen, wie viele andere Gruppen vor ihnen auch. Die Konflikte nehmen daher zu und letztlich können sich auch kleinere Gruppen nicht so entwickeln, dass sie ihren “Islamismus” beibehalten können.
Fazit zum politischen Islam
Insofern ist Druck von Muslim:innen daher angebracht und führt, früher oder später, auch zu Veränderungen bei solchen Gruppierungen. Der Begriff “Der politische Islam” taugt hier aber aus meiner Sicht nicht. Er macht nämlich genau das, was vermieden werden sollte: Engagierte und einfache Muslim:innen werden mit Islamisten und Terroristen gleichgesetzt und diskreditiert.
Solche Ausgrenzungserfahrungen, obwohl man sich um Teilhabe und Inklusion bemüht, führen oft zur Resignation und sind auch, wie jüngste Studien zeigen, Auslöser für Radikalisierung. Und genau das sollten wir alle ernst nehmen und verhindern!