Seit vielen Jahren gehört Gerhard Schweizer mit seinen Werken über Islam, muslimische Kultur und über Länder des Vorderen Orients zu meinen Lieblingsautoren. Sein Sachbuch über den Islam ist aus meiner Sicht das beste Werk bisher, dass überhaupt als Einführungsliteratur zum Thema verfügbar ist. Vor kurzem ist vom SPIEGEL-Bestseller-Autor das neue Buch “Mit offenem Blick” erschienen und führt in seine persönlichen Begegnungen mit “fremden” Kulturen ein. Eine kleine Buchbesprechung.

In diesen Tagen fällt mir das Rezensieren doch schwieriger als sonst. Corona hat uns alle mehr oder weniger im Griff. Ich begnüge mich eigentlich mit Literatur und wissenschaftlichen Aufsätzen zur Muslimbruderschaft. Daneben gibt es aber auch Bücher, die ich unbedingt zu Ende lesen wollte. Dazu zählte auch das jüngste Werk von Gerhard Schweizer, “Mit offenem Blick”. Heute konnte ich das Buch nach mehreren Wochen lesen, endlich auf meine “gelesen” Ablage stellen.

Wer meine Beiträge verfolgt, weiß, dass ich ein großer Fan von Gerhard Schweizer bin. Sein Buch “Islam verstehen” hat für mich eine besondere Stellung. Seine Bücher zum Iran, Syrien und der Türkei haben fachkundige Inhalte, wie man sie sonst nur vergeblich sucht. Ich habe sehr viel von seinen Büchern, seinen Einblicken und seinen Ausführungen profitiert. Sie sind nicht nur vergleichend und scharf analytisch. Sie geben auch etwas Menschliches wieder. Und das liegt auch am Erzählstil des Autors.

Reisen und Erfahrungen von Gerhard Schweizer

In “Mit offenem Blick” spricht Schweizer nun explizit über seine Reisen und seine Erfahrungen mit “fremden” Kulturen. Es geht um Globalisierung, Kolonialismus, Nationalismus, Rassismus, Entwurzelung und Heimat. Dabei berichtet der Autor in drei verschiedenen Kapiteln über seine Erfahrungen auf touristischen Reisen, analysiert die Krisen unserer Zeit anhand der Migrationsbewegung und geht auf die Entwurzelung in sozialer und religiöser Hinsicht ein, mit verschiedenen Beispielen.

Zunächst geht Schweizer auf seine Erfahrungen als Tourist in diversen Ländern ein. Dabei outet sich der Autor auch als jemand, der eher nach “authentischen” Eindrücken sucht, als nach touristischer Unterhaltung. Das wird auch schon bei seinen ersten Eindrücken aus Afghanistan, Marokko oder Tunesien (wohlgemerkt in den 1960er-Jahren) deutlich. Gerade spannend sind aber die Grenzerfahrungen, die Schweizer macht, wenn er beispielsweise mit türkischen Gastarbeitern reist.

Armut, Ungerechtigkeiten und Entwurzelung

In allem hat der Autor einen Blick für die Ungerechtigkeiten und die Wahrnehmung der Menschen. Er zeichnet dabei aber auch ein Bild von architektonischer Schönheit und wie diese unberührten Dinge anhand von Globalisierung, Bevölkerungswachstum, Landflucht und Migration zerstört werden. Schweizer blickt dabei auf die Entwicklungen, liefert Zahlen und bleibt dennoch in den Antworten doch etwas vage. Das ist auch der Unschärfe geschuldet, mit der Analysen getroffen werden können.

Brutal wird es, wenn Schweizer die Kastenproblematik in Indien anhand von eigenen Erfahrungen darstellt, die Armut der Menschen in ungeschönter Weise darstellt und wie die Reichen mit ihren Privilegien umgehen und verachtenswert sich ihre Mägen vollstopfen. Nicht nur dem Autor kommt das Essen wieder hoch, wenn er diese Zeilen liest. Im weiteren Verlauf widmet sich Schweizer stärker der Frage nach der Entwurzelung.

Marokko und antidemokratische Entwicklungen

Hier konzentriert sich der Autor auch stärker auf Marokko und gibt Beispiele für soziale Konflikte, Lösungsansätze für modernen Verständnissen von Islam und Gesellschaft, aber auch dem Versagen gegenüber Ideologien und Terrorismus. Dabei geht der Autor im letzten Abschnitt des Buches auch verstärkt der Frage nach, wie der Clash of Civilizations vermieden und vielleicht auch schon gelöst ist. Dabei ist vorwiegend die Selbstreflexion in Deutschland und Österreich ein Thema.

Insgesamt besticht das Buch durch seine gute Erzählweise, eine fundierte Analyse der Krise unserer Moderne und der Krise westlicher Gesellschaften, die sich antidemokratischen Entwicklungen ergeben. Schweizer wirkt allerdings in diesem Buch etwas anders als vergleichsweise in anderen Büchern. Hier ist er nachdenklicher und analysierender als in vorangegangenen Werken. Es gibt ein Problem und das zeigt sich eher in der Konstruktion der Kapitel.

Fazit zu “Mit offenem Blick”

Die Kritik und die Beschreibung des Zerfalls in der muslimischen Welt, der sich anhand der Thematik der Entwurzelung Bahn bricht, ist ein Symptom. Wir kommen aber nicht heran an die Lösung. Schweizer fordert uns eher dazu auf, dass wir insgesamt mit offenem Blick agieren, mehr reflektieren und plurale Heimaten und plurale Gesellschaften akzeptieren.

Die Frage ist, ist die Krise unserer Zeit so einfach zu lösen? Schweizer selbst zeigt anhand seiner Fallbeispiele, dass es eben nicht so einfach ist, in einer weltweiten Migrationsbewegung einfach so Heimaten und multikulturelle Gesellschaften zu akzeptieren.

Insofern bleibt es ein Plädoyer für eine bessere Welt. Lesenswert und anregend zum Nachdenken. Aber die Antworten werden wir nicht so schnell finden können. Zumal ein Aspekt sehr kurz kommt: die globale Klimakrise. Diese dürfte die größte Herausforderung unserer Zeit werden, wenn sie es denn noch nicht ist.

Titel: Mit offenem Blick
Autor: Gerhard Schweizer
Verlag: Klett-Cotta
ISBN: 978–3–608–96377–9
Preis: 22 €
Link: https://www.klett-cotta.de/buch/Gesellschaft_/_Politik/Mit_offenem_Blick/117350

Hinweis: Für diese Buchbesprechung hat der Klett-Cotta Verlag mir ein Rezensionsexemplar, auf direkten Wunsch des Autors, zur Verfügung gestellt. Dafür bedanke ich mich von ganzem Herzen.

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