In einer Lesung stolperte ich über einen Vers in der Sura Maria (Maryam) im gnadenreichen Koran. Eine wichtige Lektion in Bezug auf Kontext, Exegese und Bedeutungsmöglichkeiten einzelner Wörter und Sätze im Koran.
Bei einer Lesung des Koran bin ich über diesen Vers in der 19. Sura (Maryam) gestolpert. Ich hatte mich davor mit der Thematik über die besondere Ansprache der Maria (Maryam) in diesem Vers beschäftigt.
يَٓا اُخْتَ هٰرُونَ مَا كَانَ اَبُوكِ امْرَاَ سَوْءٍ وَمَا كَانَتْ اُمُّكِ بَغِياًّۚ ﴿٢٨﴾
„O Schwester Hārūns, dein Vater war doch kein sündiger Mann, noch war deine Mutter eine Hure.“ (19:28)
Zum Hintergrund dieses Verses in der Sura Maryam: Maria (ra), Mutter Jesu (as), taucht bei ihrem Volk mit einem Sohn auf. Sie hat keinen Ehemann. Entsprechend trifft sie auf die Vorwürfe aus ihrer eigenen Gemeinschaft: „O Schwester Hārūns, dein Vater war doch kein sündiger Mann, noch war deine Mutter eine Hure.“ (19:28) Sie zeigt daraufhin das sprechende Kind Jesus (as). Ein Wunder und zugleich Prophet Allahs auf Erden.
Der Anfang des Verses kann missverständlich sein
Was hier vereinfacht, übersetzt dargestellt wird, hat jedoch einen interessanten Aspekt, der näher betrachtet werden sollte. Wir können beispielsweise bei dem oben genannten Vers einen bestimmten Punkt hervorheben. Die Ansprache in Richtung Maria (ra) erfolgt mit den Worten „O Schwester Arons“.
Ist Maria (ra) die Schwester des Propheten Aron (as)? Diese Frage kann bejaht werden. Zwar liegen zwischen den Lebenszeiten beider Personen mehrere Jahrhunderte, aber sie sind im übertragenen Sinne Geschwister. Beide stammen zudem aus der gleichen Familienlinie ab.
Unter diesem Gesichtspunkt sollte man auch die Sitten in der Zeit der Offenbarung des Koran betrachten. Unter den arabischen Familien zur Zeit des Propheten Muhammad (saw) war es üblich, sich in einer ähnlichen Art zu grüßen. So sprachen beispielsweise andere Familien die Angehörigen der Quraish als „O Sohn der Quraish“ oder „O Schwester der Quraisch“ an. Wenn in diesem Vers also Maria mit „O Schwester Arons“ angesprochen wird, so kann es auch als eine Höflichkeitsfloskel verstanden werden. Es meint im übertragenen Sinne vorwurfsvoll „Maria, du, die von einem edlen Propheten (Aron) abstammt, wie konntest du das nur tun?“
Was aber, wenn Maria (ra) nicht von Aron (as) abstammte?
Selbst wenn man annimmt, Maria (ra) sei nicht von edler Abstammung des Propheten Aron (as), so kann der Hinweis nicht schaden, sich zu vergegenwärtigen, dass die Ansprache auch eine Andeutung auf die besondere Stellung der Maria in ihrer eigenen Gemeinschaft sein kann.
Maria (ra) galt als vorbildlich im Charakter, ebenso wie in ihrem Handeln. Eine gottesfürchtige Gläubige, die sich durch ihr Handeln und ihre guten Taten bereits als Vorbild die Ansprache „O Schwester Arons“ verdient hat. So müsste der Vers in diesem Falle als „O du, mit ihrer Hingabe, ihren Gebeten und ihrer Gottesfurcht dem Aron gleichende Person“ beginnend interpretiert werden.
Und selbst wenn mit Aron nicht der Prophet (as), sondern eine Person mit dem Namen Aron zu der Zeit der Maria (ra) gemeint sein sollte, so wäre auch hier eine Person zu vermuten, die sich in seinen Handlungen und im Glauben von anderen hervorhebt und die als Vorbild für Maria (ra) diente. Auch in diesem Sinne lässt sich der Beginn dieses Verses interpretieren.
Bleibt natürlich die Frage, was ist vermutlich das richtige Verständnis?
Ausgehend von einem Hadith, einer Überlieferung vom Propheten Muhammad (saw), die sich bei Ahmed bin Hanbel, Muslim, Tirmizi, Nesai und anderen findet, lässt sich die Sache etwas aufklären.
Mughira ibn Shu’ba (ra) berichtet, dass der Gesandte Allahs ihn zu den Nadschran sandte. Diese waren zu diesem Zeitpunkt Christen und einige Mönche, die Mughira den Vers aufsagen hörten, störten sich daran. Maria (ra) könne nicht die Schwester des Propheten Aron (as) sein, war der Vorwurf. Mughira (ra) berichtet, er sei im Anschluss zurückgekehrt und habe dem Propheten Muhammad (saw) über das Geschehene berichtet. Der Prophet (saw) sagte daraufhin zu ihm, er hätte den Nadschran sagen sollen, dass die Völker vor ihnen ihren Kindern die Namen von aufrichtigen Menschen und Propheten (as) gegeben haben. Im arabischen Original bei Muslim (2135):
إِنَّهُمْ كَانُوا يُسَمُّونَ بِأَنْبِيَائِهِمْ وَالصَّالِحِينَ قَبْلَهُمْ
Diese Aufklärung lässt den Schluss und die Interpretation zu, dass mit „O Schwester Arons“ nicht direkt der Prophet Aron (as) gemeint ist. Stattdessen ist anzunehmen, dass das Volk zur Zeit der Maria (ra) die Namen der aufrichtigen Menschen und Propheten (as) benutzte, die vor ihnen gelebt haben.
Heute finden sich in vielen Tafsir, also Erläuterungen zum Koran, deutliche Hinweise zu dieser Thematik. Es sei unter anderem der Tafsir von Ibn Kathir (ra) empfohlen. Auch Muhammed Asad (ra) hat sich in seinem Werk „Die Botschaft des Koran“ mit dem Vers beschäftigt und macht bei seiner Einschätzung unter anderem auf die Besonderheit der semitischen Sprache aufmerksam.
Die Ansprache der Maria (ra) ließe sich aus seiner Sicht zudem auch mit der Ansprache der Elisabeth, der Frau des Zacharias, im Lukas-Evangelium vergleichen. Dort heißt es in 1:5 übersetzt „Zu der Zeit des Herodes, des Königs von Judäa, lebte ein Priester von der Ordnung Abija, mit Namen Zacharias, und seine Frau war von den Töchtern Aaron, die hieß Elisabeth.“
Und Allah (swt) weiß es am besten.