Ein Urteil der 2. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin, vom Januar 2020, ist bisher kaum in öffentlichen Debatten beachtet worden. Dabei gibt das Urteil zu einer Einbürgerungsfrage Aufschluss über eine bekannte Rechtspraxis gegen Mitglieder und Aktive in der IGMG. Im Zweifel kann weiterhin Personen die Einbürgerung mit Verweis auf ihre Aktivitäten, auch frühere, bei der IGMG verweigert werden. Die Begründung des Verwaltungsgerichts sollte daher zur Kenntnis genommen werden, auch weil sie Auswirkungen auf andere Bereiche hat.

Schon seit den 80er-Jahren war ein Engagement bei der Milli Görüs in Deutschland mit Risiken verbunden. Die gesamte Organisation (in den 90ern Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT); später Internationale Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)) wurde vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Milli Görüs richtete sich gegen die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung (FDGO) und Mitgliedern wurden immer wieder durch Behörden auch Steine in den Weg gelegt. Eine bekannte Praxis war, dass die Einbürgerung von aktiven Mitgliedern und Funktionären immer wieder mit Verweis auf die Milli Görüs verweigert wurden.

Als die IGMG später eine Einbürgerungskampagne startete und formal einige Verfassungsschutzämter der Organisation attestierten, sie wolle eine eigene Partei in Deutschland gründen [1], wurde der Ton schärfer. Es folgte außerdem der 11. September, der zur Folge hatte, dass einfache Mitglieder und Moscheebesucher auch ihre Jobs verloren, wenn sie in wichtigen und sicherheitsrelevanten Branchen arbeiteten. Viele Projekte der Milli Görüs, die auch dem Gemeinwohl dienten, wie die Jugendarbeit, wurden torpediert und immer mit dem Stigma der Ausgrenzung belegt.

Risiko: Mitgliedschaft oder aktive Arbeit bei der IGMG

Die Mitgliedschaft bei der IGMG und Folgeorganisationen war schon immer mit Risiken verbunden. [2] Das war auch verbunden mit einer gesellschaftlichen Ächtung und auch der Frage, wofür man sich entscheidet, wenn man plötzlich die Chance hat, sich aktiv in der Gesellschaft oder in einem gut bezahlten Job einzubringen. Während dieser Druck von außen ohnehin auf die Organisation wirkte, gab es auch Änderungen an den Positionen und Haltungen der Organisation. Der sog. “liberale Flügel” innerhalb der IGMG setzte sich für eine Öffnung der Organisation und mehr Transparenz ein. [3]

Diese Entwicklung, die auch die IGMG als heimisch in Deutschland zu verorten versuchte, trug dazu bei, dass die IGMG sich von der Türkei und einer Orientierung an der Türkei Abstand nahm und als solche nicht mehr Beobachtungsobjekt vieler Landesämter für Verfassungsschutz wurde. Zudem wird die Milli Görüs Bewegung (MGB) weiterhin von Sicherheitsorganen bundesweit als Ganzes beobachtet. [4]

Beobachtung gezielterer Objekte und Milli Görüs Ableger

Die Einstellung der Beobachtung der IGMG hatte in den Bundesländern zur Folge, dass diese sich verstärkt auf verfassungsfeindliche Gruppierungen konzentrierten. Darunter die Saadet Partisi, Erbakan Stiftung aber auch die Ismail Aga Gemeinschaft. [5] Insgesamt brüsten sich die Hauptorganisation oder auch einzelne Landesverbände der IGMG damit, dass sie es geschafft hätten, aus den Verfassungsschutzberichten herausgenommen zu werden, obwohl eine Beobachtung von Teilen der IGMG auch weiterhin stattfindet. Es scheint auch, wie das aktuelle Urteil zeigt, keinen Grund für Entwarnung zu geben.

Es ist ein Trugschluss anzunehmen, mit Blick auf das jüngste Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin [6], die (teilweise) Einstellung der Beobachtung hätte keine weiteren Konsequenzen mehr für die einzelnen Mitglieder oder Aktiven innerhalb der IGMG. Das zeigt das bereits zu Anfang dieses Textes erwähnte Urteil, dass sich in der Sache auch sehr ausführlich äußert und interessante Anhaltspunkte gibt. Es ist aber auch wichtig, sich die verschiedenen Hintergründe ein wenig genauer anzuschauen, daher dieser kleine Einstieg in die Gesamtbetrachtung.

Der Fall: Ein aktiver junger Mensch bei der IGMG möchte die Deutsche Staatsbürgerschaft haben

In dem vorgenannten Fall geht es um eine Person, die 1989 in Berlin geboren wurde, aktiv in der Jugendarbeit der IGMG in Berlin gewesen ist und seit 2015 für die IGMG in Berlin arbeitet. Das Geburtsdatum ist insofern wichtig, als Personen, die vor dem Stichdatum 1990 geboren wurden, weiterhin als Türkeistämmige (in aller Regel) kein Anrecht auf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben. Diese müssen sich auch für eine Einbürgerung entscheiden und einen Antrag stellen. Kindern ab 1990 wurde bereits teilweise automatisch, wenn die gesetzlichen Grundlagen dafür vorlagen, eine doppelte Staatsbürgerschaft verliehen. [7] Die das Urteil betreffende Person besitzt eine Niederlassungserlaubnis, seit 2011, und wollte sich einbürgern lassen.

Die Person unterzeichnete auch ein Formblatt und bekannte sich schriftlich zur Freiheitlich Demokratischen Grundordnung (FDGO). Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres teilte dem Bezirksamt in Kreuzberg mit, dass bei den Verfassungsschutzbehörden Erkenntnisse vorliegen könnten, die sicherheitsrelevant seien. Deshalb wurde die Person angehört. Die Person gab an, nichts mit dem Gründer Mill Görüs-Bewegung und späteren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zu tun zu haben, ebenso wenig mit dem Modell der Adil-Düzen (Gerechte Ordnung) und auch nicht mit der Saadet Partisi. Diese Fragen kamen auch auf, weil im Web eine Präsentation aufrufbar war, die von der jungen Person stammen soll.

Einfaches Bekenntnis: keine demokratie- oder verfassungsfeindlichen Ziele

Gleichzeitig bestätigte die Person, bei der IGMG tätig zu sein und sich auch ehrenamtlich dort zu engagieren. Die Person verfolge mit diesem Engagement jedoch keine demokratie- und verfassungsfeindlichen Ziele. Das Engagement bei der IGMG erfolge aus religiösen und sozialen Gründen. Der Antrag auf Einbürgerung wurde jedoch trotz dieser Bekundung und Klarstellung abgelehnt.

Als Grund wurde das Engagement bei der IGMG angegeben. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport gab an, die Person sei dem Berliner Verfassungsschutz als Führungsperson der IGMG bekannt. Teile der IGMG verfolgten Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dazu muss man auch anmerken, dass in Berlin der Verfassungsschutz aktuell nur noch die Milli Görüs Bewegung, nicht mehr jedoch die IGMG als solche beobachtet.

Interessant ist auch, die Präzision der Begründung und ein Hinweis auf den Eintrittszeitpunkt in die Organisation. Die Person “sei zu einem Zeitpunkt der IGMG beigetreten, zu dem diese eine homogene, auf die islamistische Ideologie des früheren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan ausgerichtete Organisation gewesen sei.

Und weiter: “Selbst wenn sich die IGMG heute in ihrer Selbstdarstellung als religiöse Gemeinschaft sehe, könne er hieraus nichts zu seinen Gunsten herleiten. Ohne eine überzeugende Distanzierung müsse er sich schon allein aufgrund des Beitrittszeitpunktes zur IGMG als Anhänger und Unterstützer speziell der islamistischen Linie ansehen lassen.

Senatsverwaltung macht Unterschiede zwischen IGMG-Aktiven

Interessant wurde es dann auch, als die Person Klage gegen die Nichteinbürgerung einreichte. Die Senatsverwaltung erklärte, um die Klage abweisen zu lassen, die Person gehöre “zu den “Traditionalisten” innerhalb der IGMG und sei nicht Anhänger des Reformflügels der IGMG; daher verfolge er gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen.” Das Gericht folgte letztlich mit seinem Urteil den Erklärungen der Senatsverwaltung.

Das Urteil ist auch im Web einsehbar und bietet viele weitere Details, auf die ich — auch aufgrund der Kürze nicht weiter eingehen möchte. Das Urteil an sich stellt erneut dar, wovor immer wieder gewarnt wurde: Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, mit dem Ende der Beobachtung sei jetzt alles geklärt. Wer meint, nur weil die IGMG kein Beobachtungsobjekt mehr des Verfassungsschutzes in einigen Ländern sei, dadurch mehr Freiheiten zu genießen als früher, irrt sich. Die Behörden nehmen Engagement und weiter bestehendes Engagement weiterhin wahr und ordnen diese auch nach Distanzierung und Zeitpunkt des Engagements.

Faktisch müssen Aktive weiterhin mit Repressalien rechnen, wenn sie sich nicht glaubwürdig distanzieren können

Dazu gehört auch, dass Engagement weiterhin unter bestimmten Aspekten problematisch sein kann. Wer weiterhin auf eine Einbürgerung hinarbeitet oder in einem sicherheitsrelevanten Bereich zu tun hat, muss sich glaubwürdig von der Organisation distanzieren können. Dazu reicht es auch nicht — wie der Fall zeigt — ein Bekenntnis abzulegen oder zu bestreiten, dass man die FDGO abschaffen möchte.

Immer wieder haben verschiedene Akteure des sog. “liberalen Flügels” innerhalb der IGMG genau vor solchen Szenarien gewarnt. Es wurde auch darauf gedrängt, die Menschen mehr in Schutz zu nehmen. Gerade das Generalsekretariat unterstützte damals auch in Gerichtsprozessen verschiedene betroffene Personen. Das Problem bleibt aber weiterhin bestehen. Menschen, die sich engagieren und plötzlich vor Hürden stehen, die sie nicht haben kommen sehen.

Die Frage ist auch, wie die IGMG mit solchen Fällen insgesamt umgeht. In der Vergangenheit wurden einzelne Personen juristisch unterstützt. Ob das noch so ist, kann nicht geklärt werden. Der Verband macht dazu keine Angaben mehr. Im Ergebnis unterscheiden sich die Entscheidungen oder Urteile jedoch nicht. Oftmals wurden die Begehren nach Einbürgerung von deutschen Gerichten abgelehnt. Man blieb im Zweifel auch auf den Prozesskosten sitzen, die nicht ohne sind. In diesem Fall beispielsweise wurde allein der Streitwert auf 10.000 € festgesetzt.

Im Zweifel ist man allein

Das macht solche Dinge dann noch schwieriger, wenn man jung ist und eigentlich eine Einbürgerung beantragen wollte, um sich auch dem verbundenen Deutschland zuzuordnen. Vielen jungen Menschen ist nicht bewusst, welche Komplikationen auftreten können, wenn sie sich in einer Organisation engagieren, die teilweise oder ganz vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Im Falle der IGMG muss man sagen, dass sich in den vergangenen Jahren deutlich einiges zum Besseren gewandelt hat — wenn auch nur regional und auch nur bezüglich des Islamismus.

Es war beispielsweise für meine Zeit in Hamburg undenkbar, Fördermittel bewilligt zu bekommen für ein Projekt von jungen Muslimen in der Hansestadt. Heute ist das möglich und zeigt sich auch in diversen Projekten, die vom Bund und der Hansestadt gefördert werden. Ebenso war es nicht denkbar, dass Personen aus dem IGMG-Kreis in Bundeswehr oder auch der Polizeischule arbeiten könnten. Auch das ist zunächst kein Problem mehr. Doch insgesamt bleibt alles mit Vorbehalt zu betrachten.

Zentrale muss aufklären und junge Menschen schützen!

Aus meiner Sicht trägt hauptsächlich die IGMG-Zentrale Verantwortung und sollte ihre aktiven Ehrenamtlichen vor möglichen Konsequenzen warnen. Die Zentrale in Köln muss ihre aktiven Ehrenamtlichen, die sich oft nichts bei ihrem Engagement denken, aufklären. Gerade, wenn man das nicht tut, kann es sein, dass man jungen Menschen ihre Karriere und ihre Möglichkeiten verbaut.

Im Zweifel kann man eben nicht Richter, Lehrer, Staatsanwalt, Polizist oder Soldat werden. Wenn es richtig blöd läuft, nicht mal bei der Abfertigung am Flughafen arbeiten. Das letzte Wort in dem aktuellen Fall aus Berlin scheint noch nicht gesprochen zu sein. Es bleibt jedenfalls abzuwarten, wie sich solche Fälle weiterentwickeln und ob in diesem konkreten Fall der Rechtsweg weiter eingeschlagen wird. In vergangenen Fällen gab es ebenfalls immer wieder herbe Niederlagen für die Betroffenen. Die letzte Erklärung der IGMG zu einem solchen Thema stammt aus dem Jahr 2009.

Quellen:

[1] Beckstein: Milli Görüs will mit islamistischer Partei Einfluss gewinnen

[2] Keine Einbürgerung eines früheren Funktionärs der Milli Görüs

[3] Nach dem Islamismus, Werner Schiffauer

[4] Verfassungsschutz Hamburg: IGMG soll nicht mehr erwähnt werden

[5] Siehe auch aktuellen Verfassungsschutzbericht des Bundes mit einer Aufschlüsselung

[6] Das gesamte Urteil kann hier gelesen werden: http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE200001687&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10

[7] Ab sofort zwei Pässe für Migrantenkinder

[8] Siehe Verfassungsschutzbericht 2019 für Berlin

[9] BVerwG-Entscheidung gegen die Einbürgerung eines IGMG-Funktionärs ist widersprüchlich

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